Bildungskluft Einwanderer überschätzen die deutschen Schulen

Hohe Erwartungen: Einwanderer hegen große Hoffnungen in die Schulen - zu große
Foto: ddpEs ist ein sonderbares, fast groteskes Missverhältnis: Türkische Einwanderer streben für ihre Kinder eher einen höheren Abschluss an als einheimische. Zugleich liegen aber die Leistungen und Kompetenzen ihrer Kinder deutlich unter dem Durchschnitt. Und das, obwohl sie eine vergleichsweise hohe Motivation zum Lernen haben.
Eine neue Studie Bamberger Wissenschaftler legt nun nahe, dass die hohen Erwartungen der Eltern Resultat von vier Faktoren sind:
- Einwanderer überschätzen die Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems und wissen zu wenig über die Berufsbildung, wodurch sie häufig allein das Abitur für erstrebenswert halten.
- Einwanderer haben eine höhere Erwartung in die Bildung ihrer Kinder, denn die sollen Ziele nachholen, die sie selbst nicht erreichen konnten. Sie projizieren dabei einen vergleichsweise starken Willen zum sozialen Aufstieg auf ihre Kinder, weil der meist Grund ihrer Einwanderung war.
- Sie gründen die Einschätzung der Kompetenzen ihrer Kinder weniger auf Noten und Schulleistungen als auf ihren allgemeinen Eindruck von deren Persönlichkeit und Verhalten.
- Sie meinen, ihre Kinder würden in der Schule und später im Beruf diskriminiert und könnten das nur mit einem möglichst hohen und guten Schulabschluss kompensieren.
Die noch unveröffentlichte Studie "Wie lassen sich die hohen Bildungsaspirationen von Migranten erklären?" stammt von einem Forscherteam der Universität Bamberg. Sie führten mit rund 2000 hessischen und bayerischen Schülern Kompetenztests und Interviews durch. Die Schüler waren 2006, zu Beginn der Studie, in der dritten Klasse. Sie sollen noch begleitet werden, bis sie in der neunten Klasse sind. Zudem wurden auch Eltern befragt und Einschätzungen von Lehrern eingeholt.
Die Kinder sollen die unerreichten Ziele der Eltern nachholen
Die Bamberger Wissenschaftler gehen einer Frage nach, mit der sich zuletzt auch das Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung beschäftigte. Dessen Studie zeigte, dass es in türkischstämmigen Familien, anders als häufig vermutet, nicht an Bildungsmotivation mangelt - im Gegenteil: Bei gleicher Leistung und ähnlichem sozialem Hintergrund wechseln türkische Kinder häufiger auf die Realschule oder das Gymnasium als deutsche Kinder. Der Bildungsanspruch in türkischen Familien sei höher als in deutschen, so Jörg Dollmann, Autor der Studie.
Doch warum ist das so? Die Bamberger Wissenschaftler sehen einen Grund im sogenannten Immigrant Optimism: Einwanderer haben demnach einen besonders starken Willen zum sozialen Aufstieg, weil sie mit ihrem Umzug nach Deutschland die Erwartung verbinden, die eigenen Lebensbedingungen und Chancen zu verbessern. Die erste Generation sind meist Arbeiter mit im Vergleich zu Einheimischen niedrigeren Bildungsabschlüssen - sie übertragen diese Erwartungen auf die nächste Generation. "Eigene unerreichte Bildungs- und Berufsziele sollen somit über die Kinder nachgeholt werden", heißt es in der Studie.
Damit verbunden ist eine Erwartung an das Schulsystem in Deutschland: Türkische Einwanderer nehmen häufig an, dass es fortschrittlicher und durchlässiger sei als im Heimatland. Sie gehen davon aus, dass die Schulen in Deutschland ihren Kindern guten Möglichkeiten geben, einen hohen Abschluss zu erreichen. Die Erwartung geht allerdings einher mit geringen Kenntnissen über die tatsächliche Leistungsfähigkeit und Gerechtigkeit des Schulsystems. Sprich: Einwanderer überschätzen das Schulsystem.
Haben die Eltern einen geringen sozialen Status, ist das vor allem in Bayern ein Trugschluss: Es ist das Land, in dem die Abhängigkeit zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg der Schüler am größten ist. Insgesamt ist der Effekt in Deutschland laut der aktuellen Pisa-Studie in den letzten Jahren zwar etwas zurückgegangen, aber weiterhin bedeutend.
Je besser die Eltern integriert sind, desto realistischer ihre Bildungsziele
"Migranten nehmen die Selektionsmechanismen in Form von Schulnoten und ihre eingeschränkte Wahlfreiheit beim Übertritt in die weiterführenden Schulformen weniger wahr als einheimische Eltern", so die Wissenschaftler. Vor allem türkische Einwanderer neigten zudem dazu, die Schulleistungen ihrer Kinder stark zu überschätzen, was zu besonders hohen Bildungszielen führt.
Die Bamberger Wissenschaftler vermuten, dass türkische Einwanderer nicht nur wenig über das deutsche Schulsystem wissen, sondern noch dazu von einer falschen Vorstellung ausgehen: dass das Berufsbildungssystem dem ihres Heimatlandes entspricht. Dort sei es nur schwach ausgeprägt - wer einen Job in höherer Position anstrebt, hat keine Alternative zum Studium. In Deutschland ist das anders, es gibt etwa Berufsschulen und die duale Ausbildung. Unter Einwanderern sei das zu wenig bekannt, so erhalte das Abitur einen noch höheren Stellenwert.
Einen weiteren Grund für die hohen Bildungserwartungen von Einwanderern vermuten die Soziologen in der Annahme einer Benachteiligung. "In den Interviews mit türkischen Eltern hat sich herausgestellt, dass einige der Auffassung sind, ihr Kind würde in der Schule diskriminiert", so die Bamberger Soziologin Ilona Relikowski SPIEGEL ONLINE. Die Eltern versuchten das durch die Wahl höherer Schulformen auszugleichen. "Dieses Muster zeigt sich bei allen befragten Eltern, die trotz niedriger schulischer Leistungen des Kindes hohe Bildungsaspirationen aufweisen", so Relikowski.
Die Wissenschaftler zeigen zudem den Effekt von Integration in die deutsche Gesellschaft: "Sind sie mit der deutschen Sprache, Kultur und Lebensweise besser vertraut, schwächen sich deren teilweise unrealistischen Bildungsziele deutlich ab."