Experiment an Brandenburger Schule Neuntklässler sollen Bier trinken - unter Aufsicht
Sie sollen zusammen Alkohol trinken. Nach dem Unterricht, außerhalb der Schule. Das ist die Aufgabe, die Neuntklässler im brandenburgischen Templin bekommen sollen, wenn sie an einem Projekt teilnehmen. Dieses wird vom Gesundheitsministerium des Bundeslandes und diversen Krankenkassen finanziert.
Es ist die Aufgabe, die bei einigen Eltern gerade für Entsetzen sorgt - während Initiatoren und Befürworter des Projekts wieder und wieder erklären, wie sinnvoll es sei.
Das Projekt, um das es geht, heißt "Lieber schlau als blau" und richtet sich an Jugendliche der neunten und zehnten Klassen, die in Brandenburg zur Schule gehen. Schon seit 2011 wird es von einer Suchtpräventionsstelle durchgeführt, die zu einer Klinik in der brandenburgischen Stadt Lindow gehört.
Findet das Projekt an einer Schule in dem Bundesland statt, verläuft es so: Fachkräfte aus der Suchtprävention informieren Eltern zunächst in einer eigens dafür angebotenen Veranstaltung über den Alkoholkonsum von Jugendlichen. Was kann passieren, wenn junge Menschen Hochprozentiges trinken? Wie kann man sie für einen bewussten Umgang mit dem Rausch sensibilisieren?
Pro Person maximal vier Flaschen Bier
Anschließend wird ein Fragebogen an die Eltern verteilt: Sie können, mit einigen Tagen Bedenkzeit, darüber abstimmen, ob ihre Tochter oder ihr Sohn in einem geschützten Rahmen Alkohol ausprobieren darf. Ist die Mehrheit der Eltern dafür, treffen sich Schüler, Lehrer und Fachkräfte der Suchtprävention außerhalb der Schule, zum Beispiel im Jugendzentrum. Dort wird dann Alkohol gereicht. Ein Einzelner darf maximal vier Flaschen Bier (0,33 Liter) oder vier kleine Gläser Wein oder Sekt (0,125 Liter) trinken. Mitmachen darf nur, wer mindestens 15 Jahre alt ist und von einem Elternteil abgeholt werden kann.
Noch an diesem Nachmittag und in darauffolgenden Unterrichtsstunden wird die Erfahrung dann evaluiert: Die Schüler beurteilen sich und andere, stellen sich die Frage, was die Getränke mit ihnen angestellt haben. Sie sollen erzählen: Haben sie unter Alkoholeinfluss anders geredet, anders gefühlt?
In diesem Jahr soll das Projekt also auch an der Oberschule in Templin stattfinden. Doch bevor das passieren kann, gibt es ordentlich Kritik.
Manche Eltern und Großeltern seien empört gewesen, berichtet der "Nordkurier" . Eine Mutter wandte sich an die örtliche Zeitung. "Erst sollen wir unsere Kinder über die Schäden, die Alkohol und Drogen verursachen, aufklären - und jetzt wird ihnen schon in der Schule der Alkohol von Lehrern angeboten", sagte die Mutter der Zeitung .
Mehrere Medien berichteten daraufhin ebenfalls über die Templiner Schule, darunter die "Bild". Überschrift: "Schüler sollen Saufen in der Schule lernen". Die Schulleitung selbst will das öffentlich nicht kommentieren und verweist auf das Bildungsministerium. Doch selbst der Sprecher der Behörde will sich dem SPIEGEL gegenüber nicht über das Projekt äußern.
Kein sinnloses Betrinken
Die Fachleute aus der Landesstelle für Suchtfragen haben derweil Mühe, die Aufregung zu verstehen. "Natürlich geht es nicht darum, dass Schüler sich sinnlos betrinken", sagt Andrea Hardeling von der Brandenburgischen Landesstelle für Suchtfragen. Das Trinken sei eingebettet in umfangreiche Präventionsarbeit, es gebe Unterrichtsmaterialien. Das Projekt sei zudem vom Bildungsministerium genehmigt worden. Außerdem werde kein Schnaps gereicht. "Es wird auch keiner gezwungen, Alkohol zu trinken, obwohl er das nicht will", sagt Hardeling.
Seit sieben Jahren laufe das Projekt an Schulen. In den vergangenen drei Jahren machten sieben Klassen mit. Zwischenzeitlich habe es Anfragen anderer Bundesländer gegeben, die das Projekt übernehmen wollten, sagt Andrea Hardeling.
Die Idee zu dem Experiment entstand in einer Zeit, in der der Begriff "Komasaufen" öffentliche Debatten dominierte. Die Zahl der unter 20-Jährigen, die nach Alkoholexzessen in Kliniken gebracht wurden, war auf einem Höchststand. Im Jahr 2012, kurz nachdem das Projekt "Lieber schlau als blau" an den Start ging, wurden deutschlandweit 26.673 Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 19 Jahren nach Saufexzessen in Kliniken eingeliefert. Das waren so viele wie nie zuvor seit Beginn der statistischen Erfassung im Jahr 2000, berichtete das Statistische Bundesamt.
Im Laufe der Folgejahre gingen die Zahlen wieder zurück: 2017 waren es 21.721 Jugendliche, die wegen eines Vollrauschs im Krankenhaus behandelt werden mussten. Das Problem ist dennoch groß, die Bundesdrogenbeauftragte fordert immer wieder besseren Schutz.
Kontrollverlust kam nie vor
Das Brandenburger Projekt soll ihn bieten: "Es ermöglicht, dass Jugendliche sich mit den Gefahren von Alkohol beschäftigen können, ohne dass es gefährlich wird", sagt Hardeling. Bei den Teilnehmern komme es gut an, dass nicht nur Autoritätspersonen bei dem Experiment dabei seien - sondern die Jugendlichen auch unter sich seien und besprächen, welche Erfahrungen sie bereits gemacht hätten.
Ohnehin richte sich das Projekt eher an Schulen, an denen aufgefallen sei, dass Alkohol ein Thema unter den Schülern sei, sagt Hardeling. "Ich würde es auf gar keinen Fall in einer Klasse durchführen, in der noch nie jemand etwas getrunken hat." Vielmehr gehe es darum, gute und weniger gute Erlebnisse miteinander zu vergleichen.
Erziehungsberechtigte sind trotzdem aufgebracht. Hardeling beruhigt: Kein Jugendlicher habe während des Projekts je die Kontrolle verloren. Kein "Saufen", stattdessen das Gegenteil: Eltern, Lehrer, Schüler hätten sich gemeinsam mit Fragen über Konsum und Sucht auseinandergesetzt.
Wird die Oberschule Templin das Projekt also doch durchführen? Eine Frage, die die Verantwortlichen womöglich selbst noch beschäftigt. Weder die Schule noch das Brandenburger Bildungsministerium wollten darauf antworten.