Bücher-Giftschrank Was US-Schüler nicht lesen sollen
Das zählt zur Standardlektüre im Englischunterricht: "Brave New World", "Animal Farm", "1984", "Lord of the Flies". Hier sind einige Titanen der amerikanischen Literaturgeschichte: Mark Twain, Truman Capote, Sylvia Plath und John Steinbeck. Diese Bücher haben schon Millionen Menschen die Leseabende verschönert: "Der alte Mann und das Meer" oder "Vom Winde verweht".
Von solchen Klassikern der Weltliteratur sollten Kinder und Jugendliche besser die Finger lassen, wenn es nach Tausenden von dauerbesorgten US-Bürgern geht. Sie halten die Werke für schlecht und gefährlich. Für so schlecht, schmutzig und gefährlich, dass sie einen offiziellen schriftlichen Antrag an Schulen oder Bibliotheken stellen, allerlei Bücher mit vermeintlich "schlechtem Einfluss" oder "anstößiger Sprache" aus dem Unterricht und aus den Regalen zu verbannen.
Seit 25 Jahren schlagen Amerikas Autoren, Verleger, Buchhändler und Bibliothekare stets im September Literatur-Alarm. Sie sehen sich als Bastion der intellektuellen Freiheit und kämpfen mit einer "Woche der verbannten Bücher" vom 23. bis zum 30. September gegen die Zensur: Autoren lesen aus verbotenen Büchern, Bibliothekare machen mit knallgelben Polizei-Absprerrungen auf beanstandete Titel aufmerksam. Schulbibliothekarin Deejah Sherman-Peterson steckt solche Bücher gern in braune Papiertüten: "Das macht die Kinder neugierig."
Der amerikanische Bibliotheksverband (ALA) unterscheidet zwischen Büchern, die "angefochten" (challenged) wurden, deren Verbannung also beantragt wurde, und solchen, die Schulen oder Bibliotheken dann tatsächlich hinauswerfen. Seit 1990 wurden demnach 8700 Bücher "verbannt", darunter der Massenliebling "Harry Potter" ebenso wie die Klassiker "Der Fänger im Roggen" und "Die Farbe Lila".
Moralapostel finden sich immer
Die Auswahl verbotener Bücher des Online-Portals Google, das sich zur 25-Jahr-Feier der Aktion angeschlossen hat, liest sich wie der Kanon der amerikanischen Literatur schlechthin. Rund 500 neue Anträge werden dem ALA jährlich gemeldet, die tatsächliche Zahl schätzt der Verband mindestens vier bis fünf Mal so hoch ein. Hauptopfer all dieser Beschwerden sind Schulen und Schulbibliotheken (70 Prozent) sowie öffentliche Bibliotheken (25 Prozent). Haupttäter sind mit zwei Dritteln aller Anträge die Eltern, gefolgt von Bibliotheksbenutzern und Special-Interest-Gruppen.
Vor einigen Jahren haben zum Beispiel sämtliche Schulen der Stadt Renton im Bundesstaat Washington "Huckleberry Finn" vorläufig von den Leselisten gestrichen. Grund dafür war der Protest einer schwarzen Schülerin, die sich vom Ausdruck "Nigger" in dem bereits 1885 erschienenen Buch beleidigt fühlte. Mark Twains Klassiker gehört in etlichen US-Schulen zum Lehrplan und ist eines der ersten Bücher, in dem ein schwarzer Amerikaner als Protagonist auftritt (neben etwa dem 1852 veröffentlichten Sklaverei-Roman "Onkel Toms Hütte", der in Illinois ebenfalls schon einmal auf dem Index landete - ausgerechnet wegen "rassistischer Sprache").
Fragen zu "Huckleberry Finn" kommen in nationalen Universitäts-Zulassungs-Tests vor. Dennoch zählt es zu den meist-beanstandeten Büchern in den Vereinigten Staaten und stand erst 2005 zum ersten Mal nicht auf der Verbannungsliste. "Ich kann kein Buch lesen, das mich und meine Kultur herabsetzt", argumentierte die sechzehnjährige Calista Phair, unterstützt von ihrer Großmutter, die eigens zur Literatur-Durchsicht an Rentons Schulen eine Gruppe namens "Schüler und Eltern gegen rassische Verunglimpfungen" ins Leben gerufen hatte.
Auch Minderheiten-Vertreter wie die Nationale Gesellschaft zur Förderung Farbiger gehen gegen Bücher vor, die ihrer Meinung nach "nicht zum Selbstbewusstsein afro-amerikanischer Schüler beitragen". Sehr aktiv sind aber auch christlich-konservative Vereinigungen wie diverse Lehrer-Gebets-Gruppen, die "Besorgten Christen", die "Eltern gegen Schlechte Bücher in Schulen" oder der "Republikanische Führungsrat".
Zauberlehrling Potter: zu okkult für die Bücherei
Auch wenn nicht alle Verbotsversuche erfolgreich sind, bringen die Tugendwächter die Schulen doch in eine schwierige Lage. Meist versucht die Schulleitung zunächst, in Gesprächen mit Eltern, Lehrern und Bibliothekaren einen Kompromiss zu erarbeiten. So konnte zum Beispiel die Schülerin in Renton anstelle von "Huckleberry Finn" einfach ein anderes Buch lesen und dem entsprechenden Unterricht fernbleiben. Aber nicht jede Schule macht sich diese Mühe. Um Gerichtsverfahren zu vermeiden, entfernen viele lieber gleich freiwillig die monierten Bücher.
"Oft sind die Benutzer erstaunt, was sich alles auf den Tischen findet", lacht Andrew Bates von der Stadtbibliothek in Seattle. "Ja, alle lieben die Banned Books Week." Da türmen sich Klassiker von Shakespeare, Hemingway, Virginia Wolf oder Joseph Conrad neben Madonnas "Sex", der Bibel, Stephen King und dem "Guinnessbuch der Rekorde". Ebenfalls auf den Index gehören für manche Kritiker internationale Bestseller wie "Der Herr der Ringe", "Per Anhalter durch die Galaxis" und "Garp und wie er die Welt sah". Ihr Literatur-Säuberungsdrang macht auch vor anderen Erfolgsautoren wie Kurt Vonnegut, Maya Angelou, Isabel Allende, Don DeLillo oder Gabriel García Márquez nicht Halt.
Hauptgründe für die Ablehnung eines Buchs sind die Darstellung von Sex, Homosexualität, Drogen oder Gewalt, der Gebrauch angeblich vulgärer oder rassisch diskrimierender Sprache. Hinzu kommen religiöse Inhalte oder gerade das Fehlen eines religiösen Weltbilds - oder auch schlicht die "Negation des Begriffs Familie" und Okkultismus. "Harry Potter" etwa ist inzwischen in vielen amerikanischen Bibliotheken tabu, weil darin gute Hexen und Zauberer vorkommen und Kinder die Anweisungen von Autoritätspersonen missachten.
Noch kuriosere Begründungen listet der Katalog verbotener Bücher auf: "Captain Underpants", ein beliebtes Kinderbuch, wird für "inkorrekte Rechtschreibung" kritisiert; außerdem mache sich der Held "über die Art, wie Leute sich kleiden, lustig". In einem anderen preisgekrönten Kinderbuch werde "die Forstindustrie kriminalisiert", so die selbsternannten Zensoren. Eine Schulbibliothek warf eine John Maynard Keynes-Biographie hinaus, weil das Buch "zu schwierig" sei und deshalb "Schüler, die damit gesehen werden, Beleidigungen ausgesetzt sein könnten".
Aus einem einzigen Verlag - Radcliffe Publishing - sind nach ALA-Angaben schon 42 der 100 wichtigsten Romane des letzten Jahrhunderts in Frage gestellt worden. Aus einem anderen Verlag gesellt sich "Fahrenheit 451" hinzu, das seit seinem Erscheinen 1953 mehrfach zensiert wurde. Autor Ray Bradbury schildert darin - unter dem Eindruck der McCarthy-Ära - eine Gesellschaft, die Bücher nicht liest, sondern verbrennt. Alles fing damit an, dass verschiedene Interessengruppen einzelne Bücher beanstandet haben