Chinesische Schüler Auswendiglernen sehr gut, Phantasie ungenügend

Schüler in China: Sehr gut im Wissen, Mangelhaft in Kreativität
Foto: epa Michael Reynolds/ dpaShanghai - Im Jahr 2009 nahmen die Schüler Shanghais zum ersten Mal an der Pisa-Studie teil - und holten prompt Platz eins. Ihre herausragenden Ergebnisse in Mathematik, Naturwissenschaften sowie beim Lesen und Verstehen von Texten lassen Lehrer und Politiker in Deutschland und anderswo neidvoll staunen. Der Erfolg hat aber einen hohen Preis: Der harte Schulalltag raubt Chinas Schülern nicht nur die Kindheit, sondern auch den Einfallsreichtum.
So zeigt das gute Abschneiden der Kinder in Shanghai nebenbei auch, wie wenig die Pisa-Studie manchmal über die Qualität eines Bildungssystems aussagt.
Xiao Fang ist so ein typisches Shanghaier Schulkind. Die Achtjährige geht in die dritte Klasse. "Von morgens bis abends nur Schule", sagt ihre Großmutter. "Der Druck ist riesig. Kein bisschen Zeit zum Spielen." Ihr normaler Schultag mit Unterricht und Hausaufgaben dauert meist bis abends um 21 Uhr. Dann geht sie ins Bett. Am Wochenende lernt die Achtjährige noch Englisch. Ihre Eltern sind gebildet, haben ein hohes Einkommen. Damit ihre Tochter eines Tages eine ähnlich gute Arbeit bekommt, muss sie heute viel lernen.
"Chinesen können nicht unabhängig arbeiten, ihnen fehlt soziales Geschick"
Ohne gute Testergebnisse kommt Xiao Fang nicht in eine gute Mittelschule. Ohne eine hohe Punktzahl in der Prüfung der fünften Klasse bleiben ihr bessere Oberschulen verschlossen. Zuletzt entscheidet der " Gaokao", die Aufnahmeprüfung, ob sie auf eine gute Hochschule kommt, die wiederum ihre Chancen am Arbeitsmarkt bestimmt. Die Eltern sorgen deswegen heute schon dafür, dass die Achtjährige büffelt wie verrückt. Nirgendwo lernen Kinder so intensiv vor Prüfungen wie in China - nirgendwo können sie besser auswendig lernen. Kein Wunder also, dass sie bei der Pisa-Studie gut abschneiden.
Von Erfolg möchte Jiang Xueqin, Vizeschuldirektor der Oberschule der renommierten Pekinger Universität, aber nicht sprechen. Er sieht vielmehr ein "Zeichen der Schwäche" und das "Symptom des Problems". "Es sind zwei Seiten derselben Medaille: Chinesische Schulen sind sehr gut darin, ihre Schüler auf standardisierte Tests einzustellen. Aus diesem Grund scheitern sie daran, sie auf eine höhere Bildung und eine wissensorientierte Wirtschaft vorzubereiten", argumentiert Jiang Xueqin in einem Beitrag im "Wall Street Journal".
Die Folgen von starrem Auswendiglernen seien bekannt: Ein Mangel an sozialen und praktischen Fähigkeiten, fehlende Phantasie und Neugier.
"Multinationale wie chinesische Unternehmen haben die gleichen Klagen über Chinas Universitätsabsolventen: Sie können nicht unabhängig arbeiten, ihnen fehlt soziales Geschick, um im Team zu arbeiten, und sie sind zu arrogant, neues Können zu erlernen", bemängelt Jiang Xueqin.
Schüler haben zu wenig Phantasie
Notwendig sei die Fähigkeit, Probleme zu identifizieren, in Einzelteile zu zerlegen, aus verschiedenen Blickwinkeln zu analysieren und eine Lösung zu finden, die auch über kulturelle Grenzen hinweg vermittelt werden könne. "Diese Fähigkeit zu 'kritischem Denken' müssen chinesische Studenten lernen, wenn sie global wettbewerbsfähig werden wollen."
Der amerikanische Ökonomie-Professor Michael Pettis, der an der Management-Schule der Peking-Universität unterrichtet, findet, dass Schülern im chinesischen Bildungssystem frühzeitig die Kreativität ausgetrieben wird. "Meine chinesischen Studenten können logische mathematische Rätsel allgemein leichter lösen als amerikanische und europäische Studenten", sagt Pettis.
"Auf der anderen Seite muss ich kämpfen, sie dazu zu bringen, in den Wirtschaftswissenschaften über die unterrichteten Modelle hinauszugehen - was Amerikanern viel leichter fällt und etwas weniger auch europäischen Studenten."
In einer Studie in 21 Ländern, die im November in China für Aufsehen sorgte, waren chinesische Schüler mit ihrer Phantasie das Schlusslicht. In Kreativität kamen sie nur auf den fünftletzten Platz. "Die Ergebnisse sind schockierend", mahnte die "China Daily" zum Umdenken. Die Kinder hätten kaum die Chance, ihre Vorstellungskraft zu nutzen.
"Direkt vom ersten Schultag an werden sie in eine Kultur von Prüfungen und noch mal Prüfungen gedrängt." Um zu bestehen, müssten sie nur Standard-Antworten auswendig lernen. "Lehrer trauen sich nicht, die Schüler zu ermutigen, mit ihren Gedanken aus dem Rahmen zu fallen", bemängelte das Blatt. "Lehrer mögen keine Schüler, die sie in Frage stellen, und ersticken die Neugier der jungen Geister."