Abschreiben? Unmöglich. Und Ablenkung im Unterricht gibt es auch kaum. Sven, 13, ist der einzige Schüler auf der winzigen Hallig Nordstrandischmoor und fährt, wenn es stürmt, schon mal mit dem Trecker zur Schule. Auch als Lehrer kann es an der Zwergschule nur einen geben: Henning Schlüter, 36, reif für die Insel.
Sven Glienke könnte einem Leid tun. Ob der 13-Jährige in der Nase bohrt oder die Hausaufgaben nicht gemacht hat, der Lehrer sieht alles. Sven wird so intensiv betreut wie wohl kein anderer Schüler in Deutschland. Als am Montag die Schule nach sechs Wochen Sommerferien wieder los ging, saß der Siebtklässler mit seinem Lehrer Henning Schlüter allein da. Und das wird ein Jahr lang so bleiben. Denn auf der Hallig Nordstrandischmoor vor der Husumer Küste gibt es zwar immerhin 18 Bewohner, aber nur einen Schüler und einen Lehrer.
Das ganze Schuljahr unter Dauerbeobachtung - eigentlich ist das ein Schüler-Alptraum. Sven nimmt es locker: "Ich finde das in Ordnung, kenne es gar nicht anders." Ganz abgeklärt meint er, dass "die Zeit sicher viel für mich bringen wird." Klingt artig, dabei ist der Bursche genau wie die meisten 13-Jährigen: Gern zur Schule geht er nicht unbedingt.
Sven kümmert sich um die Hühner
Sven springt lieber draußen herum, kümmert sich um Hühner, Gänse und Schafe, spielt in der Natur. Davon gibt es viel auf der Hallig, eine von zehn im nordfriesischen Wattenmeer. Wenn es im Herbst stürmt, melden die Halligen regelmäßig Land unter, denn kein Seedeich schützt sie vor den Wassermassen. Nur die Häuser stehen auf sicheren Warften.
Das Schulgebäude auf Nordstrandischmoor ebenfalls. Außer der Schule gibt es noch einen Friedhof und eine Gastwirtschaft - die gehört Svens Eltern. Nordstrandischmoor, schon der Name klingt sagenhaft, nach rauer Natur, Wind und Regen, nach langen, einsamen Wintern, nach dem Ende der Welt.
Die Romantik dieses Ortes war es auch, die den Lehrer Henning Schlüter hierhin verschlagen hat. Aufgewachsen in der Nähe von Neumünster, auch er war auf einer Dorfschule, hat es ihn immer zur See gezogen. Der 36-Jährige liebt die See, schwärmt von "Abgeschiedenheit, absoluter Ruhe und den Stürmen im Herbst".
Es gab Zeiten, da galt es als Höchststrafe, auf den Lehrerposten der Hallig verbannt zu werden. Schlüter kam freiwillig. Nach dem Examen hat er sich sofort um die Stelle auf einer Hallig beworben und lebt nun schon im vierten Jahr auf Nordstrandischmoor. "Traumhaft" findet er den Einzelunterricht: "Für einen Lehrer gibt es ja nichts Schöneres."
Mit dem Trecker zur Schule
Überfüllte Klassenräume kennt Schlüter nur vom Hörensagen. Und sein Weg zum Arbeitsplatz könnte kürzer nicht sein. Der Lehrer wohnt im Schulhaus: "Wenn ich unten die Tür höre, stelle ich die Kaffeetasse beiseite." Dann ist sein Schüler schon da. Sven geht morgens um viertel vor acht aus dem Elternhaus und kommt meist mit dem Fahrrad in die Schule. Wenn es windig ist, kommt er auch schon mal mit dem Trecker.
Henning Schlüter unterrichtet alle Fächer, bis auf den Werkunterricht, der ist auf der Hallig Frauensache. "Gerade in Fächern, in denen ich keine große Leuchte war, kann ich auch noch etwas dazu lernen." Leichte Schwächen in den Naturwissenschaften habe er, gibt der Lehrer zu. "Aber dafür kann man schöne physikalische Experimente machen, alles in der Natur auf der Hallig." Ganz anders und viel interessanter könne er den Unterricht gestalten, erklärt der Lehrer: "Hier hat man Zeit, auf die Stärken und Schwächen einzugehen."
Dabei gilt im kleinen Schulhaus auf der Hallig derselbe Lehrplan wie im Rest des Landes. So standen am Montag, dem ersten Schultag, Englisch, Deutsch und Mathe auf dem Stundenplan. 28 Stunden in der Woche geht Sven zur Schule. Am liebsten unterrichtet Schlüter Geschichte, die Lieblingsfächer von Sven dagegen sind Mathe und Sport.
Nachwuchs? "Dafür müssen sich die Leute anstrengen"
Beim Sportunterricht wird es schon mal schwierig. Fußball spielen die beiden immer gegeneinander. Im letzten Schuljahr war immerhin noch ein Kamerad dabei, da konnten die Schüler zu zweit angreifen. "Allein gegen den Lehrer ist es natürlich schwer zu gewinnen", findet der Junge, "egal, Hauptsache Fußball." Nach Fußball ist Sven ganz verrückt. Eine Lieblingsmannschaft hat er auch: Bayern München - ein ganz normaler Junge eben. Henning Schlüter indes ist schon lange Schalke 04-Fan. Aber die beiden mögen sich trotzdem.
Nommen Hartwig, bis zu den Sommerferien noch Svens einziger Mitschüler, ist jetzt mit dem Hauptschulabschluss in der Tasche nach Dänemark gezogen. Den Hauptschulabschluss will auch Sven auf jeden Fall packen. Bis dahin wird es aber noch mindestens zwei Jahre dauern. Danach möchte Sven ebenfalls auf das Festland und eine Lehre machen. Welche, dass weiß er noch nicht genau. Vielleicht wird er Schlosser. Später will er auf jeden Fall zur Hallig zurück kehren, so gut gefällt es ihm.
Ein paar Jahre wird auch der Lehrer noch auf der Hallig bleiben. Sven will er noch bis zum Abschluss bringen. So lange wird Henning Schlüter seine Freundin nur an Wochenenden sehen können. "Wenn im Winter Land unter ist, sehen wir uns schon mal länger gar nicht." Die Freundin wohnt in Flensburg, ist auch Lehrerin. Gemeinsam auf der Hallig zu unterrichten wäre natürlich ein Traum. Schlüter lacht: "Dafür müssten sich die Leute hier noch ganz schön anstrengen."
Fünf Familien leben auf der Hallig. Mal sehen, was noch nachkommt. Im nächsten Sommer wird erst einmal ein Mädchen eingeschult. Dann ist auch Sven nicht mehr so allein.
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