Die Pisa-Analyse Sind deutsche Schüler doof?

Die OECD-Studie Pisa bringt es an den Tag: Im internationalen Vergleich versagen die deutschen Schulen. Die Schüler können schlecht lesen, unzureichend rechnen, Probleme lösen schon gar nicht - eine Bilanz mit den Pisa-Aufgaben, den Ergebnissen, den Konzepten gegen die Bildungsmisere.

Andreas Schleicher, Abteilungsleiter für Bildungsstatistik bei der OECD, kennt seine Deutschen. Damit es nicht wieder Ärger gibt, hat er sich alles gegenzeichnen lassen.

Das Pisa-Konzept: Die Deutschen haben zugestimmt.

Die Testfragen: Die Deutschen haben es nicht anders gewollt.

Die vorbehaltlose Veröffentlichung aller Ergebnisse: Die Deutschen haben sich gefügt.

"Jetzt kommen die da nicht mehr raus", sagt der Pisa-Chef. Nun haben sie es. Deutschland, das Land der Dichter und Denker, ist abgehängt.

Die bewährten Konzepte der deutschen Bildungspolitik: bestreiten, zerreden, beschönigen, sie helfen nicht mehr weiter. Da nutzt kein Deuteln. Die Pisa-Ergebnisse der Schulleistungen in Deutschland dokumentieren seit Dienstag vergangener Woche eine neue deutsche Bildungskatastrophe.

"Weg von lebensferner Bildung"

Die Verantwortlichen für das Desaster, vereinigt in der Kultusministerkonferenz (KMK), waren es bisher gewohnt, jeden Entschluss zur Schulpolitik jahrelang hin und her zu wägen. Nun überbieten sich die Beteiligten binnen Stunden mit Entschlüssen und Rezepten: "Desaströs" und "absolut nicht akzeptabel" findet Willi Lemke, Bremer SPD-Bildungssenator und stellvertretender Vorsitzender der KMK, das Niveau der deutschen Schüler. Baden-Württembergs CDU-Kultusministerin Annette Schavan, derzeit KMK-Chefin, fordert deshalb sogleich "eine klare Ausrichtung des Unterrichts weg von theoretischer, lebensferner Bildung" hin zu Praxisnähe.

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt hält "eine faktische Analphabetenrate von rund 22 Prozent in einer der führenden Industrienationen der Welt" für einen "Skandal". Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, rechnet flugs vor, dass die schlechte Ausbildung jährlich rund sieben Milliarden Mark für Fortbildungen verursacht.

Eva-Maria Stange, die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, spricht vom "Pisa-Schock", präsentiert aber zugleich einen Zehn-Punkte-Plan zur Rettung der bundesdeutschen Schulen. Und der Münchner Stadtrat Bernhard Fricke will unbedingt den Unterrichtsbeginn von acht auf neun Uhr verschieben: Einschlägige Untersuchungen hätten ergeben, dass der frühe Schulanfang nicht mit den Leistungskurven der jungen Menschen im Einklang stehe.

Alle stimmen selbstverständlich dem Berliner SPD-Schulsenator Klaus Böger zu, der vorschlägt, die Ergebnisse der Studie "sorgfältig, vorbehaltlos und entschlossen zu prüfen und umzusetzen".

Kultusminister unter Druck

Unter Druck kündigte die KMK auf einer Sondersitzung schon am vergangenen Mittwoch Konsequenzen an: vor allem mehr Förderung für lernschwache sowie für besonders begabte Schüler und eine bessere Aus- und Weiterbildung der Lehrer.

Das ist auch dringend nötig. Im internationalen Vergleich finden sich die deutschen Schüler in allen getesteten Bereichen gerade mal im unteren Mittelfeld - hoffnungslos abgehängt von den Spitzenreitern Finnland, Südkorea, Japan und Kanada und nur knapp vor Polen und Griechenland.

Bei der Lesefähigkeit, Schwerpunkt der Pisa-Untersuchung, zeigen die Kinder hier zu Lande alarmierende Defizite:

  • Fast zehn Prozent der Befragten mangelt es an jeglichem Textverständnis. Diese Schüler scheitern schon an der Aufgabe, einfache Informationen in einem Text aufzuspüren. Mehr Leseversager als in Deutschland gibt es nur noch in Lettland, Luxemburg, Mexiko und Brasilien.
  • Weitere 13 Prozent schaffen es nur gerade eben, elementarste Inhalte von Texten zu begreifen. Gänzlich überfordert sind sie, wenn sie das Gelesene bewerten oder einen simplen Bezug zum Alltagswissen herstellen sollen. "Der Anteil der schwachen und extrem schwachen Leser ist mit fast 23 Prozent für Industriestaaten ungewöhnlich hoch", urteilt Jürgen Baumert vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, der die Pisa-Daten für Deutschland ausgewertet hat.
  • Typische schwache Leser sind laut Pisa männliche Jugendliche aus Migrantenhaushalten oder aus sozial benachteiligten Familien. Mädchen schneiden beim Leseverständnis wesentlich besser ab als Jungen.

Dass eine so große Gruppe von Schülern sich am untersten Ende der Leistungsskala drängt, überraschte auch die Bildungsforscher. In keinem anderen Land ist der Abstand zwischen sehr guten und sehr schlechten Lesern so groß wie in Deutschland. "Wir haben von allen Staaten die größte Leistungsstreuung", sagt Baumert, "aber leider liegt der Schwerpunkt nicht am oberen Ende."

Kaum besser als beim Lesen schlugen sich die deutschen Schüler in den beiden anderen Pisa-Disziplinen: jeweils Platz 20 in mathematischer und naturwissenschaftlicher Kompetenz, eine im Vergleich der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ebenfalls deutlich unterdurchschnittliche Leistung. Knappe 25 Prozent der Prüflinge kommen im Umgang mit mathematischen Problemen nicht einmal über Grundschulniveau hinaus.

Dass gesellschaftlicher Aufstieg durch Bildung und die viel beschworene Chancengleichheit, das Lieblingskind sozialdemokratischer Bildungspolitik, hier zu Lande offenkundig nicht stattfinden, ist die vielleicht ernüchterndste Erkenntnis aus Pisa.

Warnungen gab es genug. Gerade die Leseschwäche ist nach Ansicht zahlreicher Experten das Ergebnis einer seit Jahren verfehlten Integrationspolitik. Ausländische Kinder werden in deutsche Schulen gesteckt, ohne dass sich jemand um ihre mangelnden Sprachkenntnisse kümmert.

"Eine deutschsprachige Erzieherin kann nicht viel ausrichten, wenn die Kinder beim Spielen untereinander türkisch oder arabisch reden", sagt Heidi Kölling, Schulleiterin in Berlin-Kreuzberg, wo die Ausländerquote bereits an sechs Schulen die 75-Prozent-Grenze überschritten hat. Viele Pädagogen fordern schon lange, den Schülern fremder Zunge das Deutsche besser beizubringen, damit das Niveau in den Klassen nicht noch weiter sinkt.

An Haupt- und Realschulen ist das Niveau oft gar nicht mehr messbar. Pisa-Organisatoren berichten, deutsche Schüler an der unteren Leistungsgrenze seien nicht in der Lage gewesen, auch nur die Aufgabenstellungen der weltweit genormten Tests zu begreifen. Und allzu viele waren selbst von einfachen Fragen überfordert.

Das Pisa-Verdikt - dumm, faul oder nicht zukunftsfähig?

Im zweiten Teil:

Der Tschadsee in Zentralafrika, ein Beispiel aus dem Erdkundeunterricht, kommt und geht. 20.000 vor Christus war er nicht da, 11.000 kam er wieder, 4000 vor Christus war er sogar mehr als 60 Meter tief, 2000 vor hingegen völlig versandet. 3000 Jahre später war er etwa zwei Meter tief. Auf einem Zeitdiagramm lässt sich das alles genau ablesen.

Frage an die Pisa-Prüflinge: Wie tief ist der See heute?

Ratlosigkeit. Heute kommt im Diagramm nicht vor. Im klein gedruckten Begleittext zu der Grafik ist allerdings zu lesen, dass der heutige Wasserstand etwa dem vom Jahr 1000 nach Christus entspricht.

Das ist kein Trick, das ist Pisa. Was die Prüfer wollen, ist in keinem Lehrplan vorgesehen, das ist nicht Deutsch und auch nicht richtig Erdkunde.

Auf dem Prüfstand der Bildungsforscher standen nicht Deutsch- oder Literaturkenntnisse, sondern Cleverness. Und das Versagen der deutschen Prüflinge im internationalen Vergleich ist darum so dramatisch, weil es den Rahmen des deutschen Oberstudienratsdenkens sprengt. "Dumm oder faul?" ist die Frage des besorgten Bildungsbeamten, der erfährt, dass ein Schüler nicht mitkommt. Das Pisa-Urteil ist viel schlimmer: nicht zukunftsfähig.

"Um ein Viertel der deutschen Schüler muss man sich wirklich Sorgen machen", sagt Andreas Schleicher, der Pisa-Koordinator der OECD in Paris. Deren Lesetest-Versagen zeige, dass sie den Anschluss ans Leben, an die Herausforderungen in Familie, Beruf und Gesellschaft wahrscheinlich nicht schaffen werden.

Der kundige Pisaner holt seinen Zirkel raus

"Anschlussfähigkeit" ist das Zauberwort, mit dem bei den Bildungsforschern der OECD jenes intelligente Schulwissen charakterisiert wird, das fürs Leben fit macht. Das sollen Schüler lernen: wie man Probleme löst, wie man beim Problemelösen lernt, künftige Probleme zu lösen - und wie man über das, was man dabei gelernt hat, kommuniziert.

"Reading Literacy" ist mit "Lesefähigkeit" mangelhaft übersetzt. Der englische Fachausdruck bedeutet: erstens Informationsgewinnung, zweitens Interpretation, drittens Abgleich mit der Wirklichkeit. Das klingt sehr technokratisch, ist aber nichts anderes als die Pisa-Umschreibung für die drei Aspekte der Lesefähigkeit. Die Sache mit dem Tschadsee gehört ganz klar in den ersten Bereich.

"Reading Literacy" wird von Bildungsforschern als "Schlüsselqualifikation" für ein modernes Verständnis von Lebenstüchtigkeit betrachtet. Nicht minder wichtig sind nach der Theorie, die hinter Pisa steht, die "Mathematical Literacy" und "Scientific Literacy". Auch in Mathe und Naturwissenschaften geht es - anders als noch bei der Vorgängerstudie Timss (Third International Mathematics and Science Study) - nicht um das Produzieren von Lösungen und das Anwenden von Formeln, sondern um die Fähigkeit, sich kreativ mit realistischen Problemstellungen auseinander zu setzen.

Martin und Maria gehen beide in dieselbe Schule. Martin wohnt fünf Kilometer von der Schule entfernt, Maria zwei Kilometer. Wie weit wohnen Martin und Maria voneinander entfernt? Schon wieder so ein Trick. Die Aufgabe sei unlösbar, wandten deutsche Mathematiklehrer ein, als es um die Auswahl der Pisa-Testaufgaben ging, weil verschiedene Antworten möglich seien.

Eben drum. Der kundige Pisaner holt seinen Zirkel raus, malt zwei Kreise und diskutiert, wo die beiden Schulkinder so überall wohnen könnten.

Pisa ist unter der Hand von einem Großtest zu einem neuen Bildungsansatz geworden. Die Schulexperten der 32 Teilnehmerstaaten haben sich darüber verständigen müssen, was von Brasilien bis Südkorea, von Deutschland bis in die USA als wirklich wesentlicher Grundstock der Schulbildung betrachtet werden sollte. Der Stoff musste so allgemein gültig sein, dass von Kindern auf allen Kontinenten die gleichen substanziellen Antworten zu erwarten waren. Pisa wurde zum Namen für den international anerkannten harten Kern der Schulbildung.

Auf der Suche nach diesem Kern zogen die Tester vor eineinhalb Jahren durch die Bildungslandschaft. In versiegelten Paketen brachten sie die Bögen mit den Aufgaben, verlasen die Anleitung und nahmen am Ende alles wieder mit. Was das internationale Team der Testentwickler von den Schülern wissen wollte, konnten die Lehrer nur sehen, wenn sie den 15-Jährigen beim Ausfüllen über die Schulter schauten.

"Wir durften sogar Kaugummi kauen"

"Die Lehrer haben uns vorher gesagt, dass unser Niveau untersucht werden soll", erzählt Jasmin, 16, Zehntklässlerin im Realschulzweig der Schule Holstenhof im Hamburger Stadtteil Wandsbek. Den Test fand sie nicht so schwer. Ganz locker sei das gewesen, meint auch Jasmins Mitschüler Uzein, 17: "Wir durften sogar Kaugummi kauen." Bloß die Testleiterin war ganz anders als Uzeins Lehrer am Holstenhof. "Die war wie so'n Roboter", erinnert sich der Junge, "sie hat alles nur abgelesen und sonst nichts gesagt."

Der Chemielehrer Holger Ruschpler war an der Schule Holstenhof der Mann für Pisa. Die Unterlagen hat er in einem braunen DIN-A4-Umschlag aufbewahrt: das "Schulkoordinatoren-Manual", die Beispielaufgaben, Muster der Fragebögen für Eltern und Schüler, in denen die familiäre Situation und das soziale Umfeld beleuchtet werden sollten, und die Listen der Schüler vom Holstenhof, die mitgemacht haben.

Um die Teilnehmer zu ermitteln, mussten alle Schulen, die in einem Zufallsverfahren für Pisa ausgewählt worden waren, eine Liste der Schüler erstellen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums geboren, also zum Zeitpunkt des Tests 15 Jahre alt waren. Jeder Schüler bekam eine Nummer, und dann zogen die Mitarbeiter am Hamburger "Data Processing Center", vom Max-Planck-Institut in Berlin mit der praktischen Durchführung des Tests beauftragt, die Nummern derer, die am Test teilnehmen sollten.

Per Mausklick den Zustand der Bildung erforschen

Zwei Sätze Zahlen bekam Ruschpler dann retour, die er in Schülernamen zurückübersetzen musste: Eine Gruppe lernt am Realschulzweig, eine am Hauptschulzweig. Die Namen der Jungen und Mädchen, die schließlich die Einverständniserklärung ihrer Eltern mitbrachten und zum Pisa-Test antraten, hat er mit gelbem Textmarker angestrichen.

Alle Ergebnisse, auch die letzte Schülerantwort, werden nun ins Internet gestellt. Die Antworten werden natürlich anonymisiert. Da kann die Nation per Mausklick über den Zustand der eigenen Bildung forschen.

"Ein großes Bildungskonzept" nennt der Max-Planck-Forscher Baumert die Literacy-Lehre. Problemorientierter Unterricht, Konzentration auf intelligentes Wissen, Verzicht auf Formelplantagen in den Köpfen oder in den Büchern zu Gunsten einer fröhlichen Spielerei mit Problemen.

Spätestens jetzt ist die Bildungspolitik in der Lage, sich am Ergebnis ihrer Bemühungen zu orientieren. Nicht der Schnitt von Abiturnoten, sondern Lebenstüchtigkeit wird gemessen.

Für die OECD geht es um das "Humankapital". Volkswirtschaftlich, betont Schleicher, sei für die Bildungspolitik der "Return on Investment" in Ländern mit guten Pisa-Ergebnissen natürlich am größten.

Output statt Input - das soll künftig das Leistungsmerkmal der Bildungspolitik sein. "Sollen Schulen tradiertes Wissen übermitteln, oder sollen sie der Gesellschaft dienen?", fragt der Bildungsexperte.

Das Abitur - ein "Fahrschein ins Leere"

Im dritten Teil:

Deutschen Bildungspolitikern ist dieses forsche Output-Denken noch fremd. Traditionell orientiert sich die bundesdeutsche Schule an der Idee, was hinein soll in die Köpfe, und nicht daran, was dabei herauskommt. Gerade der Deutschunterricht ist immer noch geprägt von der bildungsbürgerlichen Idee, es müsse eine Liste von guten Texten geben, die ein Schüler zu lesen habe.

Die Frage "wozu" ist da unzulässig. Shakespeare liest man nicht zu irgendeinem Zweck, sondern um ihn im Kopf zu haben. Kein Wunder, dass Bildungsexperten wie der Ulmer Pädagogikprofessor Ulrich Herrmann das Abitur, den höchsten Ausweis solcher Deutschbildung, als "Fahrschein ins Leere" bezeichnen.

Und weil hier die Scham nun nicht weiter gebeut, / Sie schütteln sich alle, da liegen zerstreut / Die Hemdelein über den Hügeln.

Diesen Text nennt Tom Stryck, Reformer beim Berliner Schulsenator, als ein Beispiel für missglückten Deutschunterricht in der 7. Klasse einer Berliner Oberschule.

Für einen deutschen Philologen handelt es sich um einen Auszug aus Johann Wolfgang von Goethes Gedicht "Der Totentanz". Für die Pisa-Leute ist es wohl eher eine besonders schwere Aufgabe in der Kategorie 1, "Informationsaufnahme". Für den ehemaligen Deutschlehrer Stryck ist das "schlicht eine Zumutung": Ausländische Schüler in der Klasse seien an diesem Text rundweg verzweifelt.

Das Problem ist nicht Johann Wolfgang von Goethe - sondern der Umgang damit. Es gebe niemanden, kritisiert Stryck, der wisse, welchen Zweck Studienräte damit verfolgten, "die Sprachwelt des 18. oder 19. Jahrhunderts" in die Köpfe von Siebtklässlern zu stopfen. Und es gebe keine Kontrolle, ob das Ziel - welches es auch immer sei - erreicht wird. Der Sieg der Philologie über die deutsche Schule manifestiere sich in dem Glaubenssatz, die Welt erschließe sich aus der Feder der großen Meister.

Lehrer verkaufen Texte ohne Welt

"Lesekompetenz ist die Fähigkeit, geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen", so die Pisa-Studie. Das ist das Gegenkonzept. Und die Testergebnisse zeigen, dass es bei den deutschen Schülern mit der Informationsaufnahme noch gerade so geht, mit der Reflexion, dem Weltvergleich, aber deutlich hapert. Deutsche Lehrer verkaufen Texte ohne Welt.

Einer der Gründe für das traurige Ergebnis liegt nach ersten Analysen deutscher Experten darin, dass in der Welt der Schüler Texte überhaupt zu wenig vorkommen. Für eine Begleituntersuchung wurden Jugendliche befragt, ob sie auch einmal "zum Vergnügen" außerhalb der Schule läsen. Bei den Nein-Antworten ist Deutschland Weltspitze: 42 Prozent der 15-Jährigen empfinden hier zu Lande Lesen als Zumutung.

Nach Ansicht der Stuttgarter Kultusministerin Schavan hat sich die Schülerschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten dramatisch verändert. "Viele Schüler sitzen heute jeden Tag mehrere Stunden vor einem Bildschirm", so die Christdemokratin. Die Mädchen und Jungen seien geprägt durch kurze und vielfältige Reize des Fernsehens und des Computers. Während die jungen Leute früher ausschließlich mit der Hand schrieben, verfassten sie heute viele Texte am Computer, E-Mails hätten die schriftliche Kommunikation verkürzt, SMS-Nachrichten noch mehr. Vielen Schülern falle es schwer, längere Texte oder ein Buch überhaupt durchzustehen.

Öfter mal ein Märchen

Sorgen bereitet der CDU-Politikerin im Stuttgarter Neuen Schloss die Lesefeindlichkeit der Eltern. In zahlreichen Familien werde kaum einmal ein Buch oder eine Tageszeitung aufgeschlagen: "Vielen Kindern ist, als sie klein waren, nie ein Märchen vorgelesen worden." So würden die Wurzeln für eine positive Beziehung zu Büchern und Texten von vornherein fehlen. Deshalb müsse in den ersten Schuljahren der Sprachunterricht verstärkt werden: "Die Grundschule ist prägend."

"Der Erwerb der Schriftsprache gilt am Ende der Grundschule als abgeschlossen - danach gibt es keine systematische Leseförderung mehr", sagt Baumert. Das Vertrauen darauf, dass sich das Lesen per Selbstregulierung einstelle, sei bei den pubertierenden Pennälern leichtfertig. Dabei entscheide sich gerade in diesem Alter: "Leseratte oder nicht."

Rund 4000 Jugendliche und fast 700 Deutschlehrer hat der Regensburger Literaturwissenschaftler Kurt Franz im Rahmen eines Forschungsprojekts zum Leseverhalten befragt. Franz wollte wissen, ob und was die Schüler in ihrer Freizeit lesen und mit welchen Methoden die Pflichtlektüre in der Schule präsentiert wird.

Das Ergebnis bestätigt den Pisa-Befund: Lesen ist ziemlich out. Vor allem die Jungs zeigten wenig Neigung zum Buch - sie bilden die überwiegende Mehrheit der Nichtleser.

Leseförderung: Oft nur der Rat, zum guten Buch zu greifen

Franz interessierte sich besonders dafür, was die Lehrer tun, um die Kids fürs Lesen zu interessieren. "Ich wollte wissen, wie effektiv der Deutschunterricht Literatur vermittelt", erklärt der Professor.

Derzeit, so stellte Franz fest, greifen die Lehrer beim Umgang mit Texten auf die traditionellen Methoden zurück: Fragen zum Text, Charakterisierung der Personen - "alles wenig überraschend". Innovativere Konzepte, etwa auch mal ein Gedicht als Videoclip zu verfilmen, rangieren ganz hinten auf der Methodenliste deutscher Pädagogen.

Ähnlich einschläfernd wie die Methoden, mit denen die Pädagogen ihren Schülern kommen, ist auch die Auswahl des Lesestoffs. Erstens: "Der Schimmelreiter"; zweitens: "Kleider machen Leute"; drittens: "Der Hauptmann von Köpenick". Diese muffige Hitliste über die von Deutschlehrern bevorzugte Lektüre für 14jährige Schüler stellte Franz nach einer Umfrage auf.

Der lieblose Umgang mit der deutschen Literatur zieht sich durch alle Etagen. An der Fichtenberg-Oberschule im Berliner Stadtteil Steglitz ist die Schülerbibliothek im Keller, die meisten Bücher sind alt und abgegriffen. Die Stelle des "Fachleiters Deutsch" ist schon länger nicht besetzt, seit Anfang des Jahres haben die Deutschpauker sich nicht einmal zu einer Konferenz getroffen. "Wir brauchen vor allem qualifizierte junge Lehrer", klagt die Pädagogin Ulrike Kramme. Doch der Altersschnitt an deutschen Schulen steigt weiter, derzeit hat der durchschnittliche Pauker 47 Jahre auf dem Buckel.

Dass mit dem Deutschunterricht etwas nicht stimmt, ahnte bereits länger auch die Runde der deutschen Kultusminister. Im Auftrag der KMK gab der Hamburger Staatsrat und Pisa-Organisator Hermann Lange schon im vergangenen Jahr mehrere Expertisen über den Zustand der Philologie an deutschen Gymnasien in Auftrag. Das Ergebnis war so entmutigend, dass die Auftraggeber von einer Veröffentlichung absahen. Vernichtend das Urteil des Augsburger Germanistikprofessors Kaspar Spinner: Die Deutsch-Lehrpläne seien so überfüllt, das sinnvoller Unterricht gar nicht mehr möglich sei. "Die Inhalte werden nacheinander durchgenommen und abgehakt."

Das Pisa-Fiasko - im nächsten Teil die Analyse der Folgen: "Manchmal wissen die Lehrer nicht mehr als wir" - wie Schüler zu bluffen lernen. Bildungspolitiker und Lehrer ringen um Konzepte gegen den Bildungs-Notstand.

THOMAS DARNSTÄDT, JULIA KOCH, JOACHIM MOHR, CONNY NEUMANN, PETER WENSIERSKI

Bei UniSPIEGEL ONLINE: Alle Beiträge zur Pisa-Studie und zu weiteren Schulthemen

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