Die ungeliebten Außenseiter Aus dem Leben eines Strebers
Alles darf man sein an einer deutschen Schule: Turnbeutelvergesser, Schulschwänzer, Großschwätzer. Matheflasche, Legastheniker, Sitzenbleiber. Bloß eines nicht: Streber. Die sitzen immer in der ersten Reihe, schnippen vorlaut mit dem Finger, wissen alles besser und haben eine fünf in Sport. Ihr Image ist katastrophal.
Erotik-Faktor: minus zehn.
Doch sie haben auch Freunde, die Streber: Bildungspolitiker, Lernforscher, Lehrer. Die sind geradezu entzückt von den ein, zwei Schlaubergern pro Klasse, die tatsächlich aufrichtigen Spaß daran haben, für das Märchen von Hänsel und Gretel einen neuen Schluss zu erfinden oder das politische System von Simbabwe zu diskutieren. Für Lehrproben von Referendaren sind Streber oft die Rettung schlechthin.
Bloß nicht als angepasst gelten
Damit tun die Junglehrer ihnen allerdings keinen Gefallen: Wer ein gutes Verhältnis zum Personal pflegt, ist in Deutschland suspekt. Schule ist bäh, der Lehrer der natürliche Feind. Und wieder geht es für den Streber auf der Beliebtheits-Skala nach unten: minus zwanzig.
Woran erkennt man einen Streber? Fettiges Haar, dicke Hornbrille, Gesundheitssandalen und ein falsch geknöpftes, mindestens zwei Tage getragenes Nylonhemd. So jedenfalls steht es in einer Art Handbuch für Streber, dessen Titel "Wie werde ich Bill Gates" den berühmtesten Vertreter dieses Phänotyps benennt.
Als weitere Protagonisten tauchen der Kreml-Flieger Mathias Rust und der britische Ex-Premierminister John Major auf. Wobei Letzterer gar nicht so kreuzbrav war, wie sich kürzlich herausstellte; er hatte ein Verhältnis mit der damaligen Gesundheitsministerin Edwina Currie. Und schon wird John Major in der "Bill-Clinton-Klasse" gehandelt. Und der war alles andere als ein Streber.
"Streber" lässt sich kaum übersetzen
Das ist letztlich der Traum eines jeden Strebers: auch ein bisschen Schlawiner sein, bloß nicht als angepasst gelten. Die wenigen Joints meines Lebens habe ich auf stinkenden Schulklos geraucht, um bloß nicht als brav zu gelten mit meinen vielen Einsen im Zeugnis. Schon mit zwölf, noch entfernt von jeglicher Geschlechtsreife und bar jeden Lustgewinns, stand ich mitten auf dem Schulhof und küsste picklige Milchgesichter.
Das war im katholischen Oberschwaben streng verboten, und schwupp ging es bergauf mit mir auf der Beliebtheits-Skala. Wenn da jemand zwei Tage alte Klamotten anhatte, dann waren es übrigens die Kerle. Die hatten schlechte Noten in Mathe, eine Eins in Sport und ein Mofa. Sie waren hip, wie es heute heißen würde. Und das sollte auf mich abstrahlen. Denn ich hatte panische Angst, als Streber dazustehen.
Begriffsklärung: Was ist das eigentlich, ein Streber, Herr Boehnke? Der Soziologie-Professor von der International University in Bremen hat die erste weltweite Studie zu diesem Thema initiiert - finanziert von der honorigen Deutschen Forschungsgemeinschaft, einem Sammelbecken für Streber. Der Begriff, so viel weiß Boehnke jetzt, lässt sich nicht in andere Sprachen übersetzen. Ein Streber ist etwas typisch Deutsches.Die Engländer kennen zwar einen swot, aber das ist eher der Schleimer, der immer freiwillig die Landkarten holt und die Tafel putzt - teacher's pet sagen sie auch zu ihm, Lehrers Liebling. Gute Noten hat der nicht, er ist eher strohdoof und opportunistisch.
Im Amerikanischen gibt es außerdem den nerd, den genialen Computerfreak, der tatsächlich zwei Tage das Hemd nicht wechselt und nicht aus dem Haus geht. Aber dafür gegen drei Uhr nachts das Sicherheitssystem des Pentagon knackt. Ein Genie, aber ein liebenswertes.
Das Geheimnis guter Noten - wie man Lehrer auch mit Halbwissen beeindruckt und sich zum Abitur mogelt. Und warum Streber oft den sozialen Schmierstoff in der Klasse bilden...
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Daneben findet sich der grind. So nennen Amerikaner einen ehrgeizigen Schüler, der aber auch bauernschlau weiß, wie man sich durchs Leben schlägt. Durchaus anerkennend ist das gemeint, ein grind wird nicht gemobbt.
"Manchmal muss man eben die Gedichtinterpretation kennen, die der Lehrer im Kopf hat", sagte der amerikanische Schauspieler Matt Damon kürzlich einem deutschen Reporter. Ein Dokument des kulturellen Missverständnisses. Eine ganze Seite lang spricht der Deutsche den Amerikaner auf sein Streber-Image an: mit 27 schon einen Oscar und dann auch noch Filmrollen als erfolgreicher Anwalt und Golfprofi!
Doch der clevere Damon kapiert die außerordentlich deutschen Fragen offenbar gar nicht. "Ich wollte Schauspieler werden und musste es auf die Yale School of Drama schaffen...", verteidigt er sich, "so wurde ich sehr fleißig." Und weiter: "Wir dürfen doch nicht jede zielgerichtete und einigermaßen erfolgsorientierte Handlung als Strebertum brandmarken."
Das Geheimnis guter Noten
Damit offenbart Damon das Geheimnis guter Noten: Man muss nicht hochbegabt sein. Man muss nur mit etwas Fantasie herausfinden, mit welchem Halbwissen Lehrer zu beeindrucken sind. Dass etwa der Religionslehrer aus unerfindlichen Gründen dahinschmilzt, wenn man Albert Camus mit dem Satz "Ich glaube nicht an Gott, und ich bin kein Atheist" zitiert. Dass in Physik vieles in irgendeiner Form auf die Entropie hinausläuft und man in Chemie eine hohe Treffer-Wahrscheinlichkeit hat, wenn man im richtigen Moment das Zauberwort "Edelgas-Konfiguration" aufsagt. Ich habe mich damit zum Abitur gemogelt.
Hinzu kommt, dass ich schnell einschlafe, wenn ich nur zuhöre, also habe ich mich oft zu Wort gemeldet. Und aus reinem Pragmatismus habe ich früh beschlossen, das Biotop Schule, in dem ich die Hälfte meiner Wachzeit verbringen musste, nicht als feindliche Umwelt zu begreifen. Das alles hatte fast automatisch Einser-Zeugnisse zur Folge. Und damit hatte ich ein Problem.
Angst vor dem schlechten Image
Ein rein deutsches Problem, bestätigt Professor Klaus Boehnke. Nur hierzulande gebe es den Zusammenhang zwischen guten Noten und Unbeliebtsein, zwischen Leistung und negativer Sanktionierung. Nicht in den USA, nicht in Kanada, nicht in Israel. Die Angst, als Streber diffamiert zu werden, lasse die Schulleistungen einiger Kinder deutlich sinken. Vor allem leistungsstarke Mädchen blieben etwa in Mathematik oft weit unter ihren Möglichkeiten; ohne diesen Effekt hätten Mädchen heute im Schnitt bessere Mathenoten als Jungen.
Einen Grund für die Angst, als Streber zu gelten, sieht der Forscher in der Notengebung. "In den USA oder Israel kommt fast jeder Schüler irgendwann mal in den Genuss der Bestnote", sagt Boehnke, "in Deutschland sind Lehrer viel zurückhaltender mit Einsen." Und die wenigen, die eine bekommen, bleiben Außenseiter.
Ich habe früher alles getan, um nicht allein mit meiner Note zu bleiben. Wie oft bin ich morgens bei Dunkelheit eine Stunde zu früh in den Bus gestiegen, damit Klassenkameraden vor der verschlossenen Schule meine Hausaufgaben abschreiben konnten. Wie vielen aussichtslosen Fällen habe ich nachmittags mit kostenloser Nachhilfe versucht, den Ablativus absolutus beizubiegen. Wie viele Nebensitzer habe ich meine Klausuren abschreiben lassen, wie vielen habe ich heimlich meine Radiergummis mit Physikformeln zugeschoben und meine Spickzettel mit unregelmäßigen Verben auf dem Mädchenklo weitergereicht.
Sozialer Schmierstoff in der Klasse
Zu meiner Entlastung trug erheblich bei, dass es einen zweiten Einserschüler in meiner Klasse gab, der es eindeutig schwerer hatte, weil er eine Flasche im Fußball war und grauenhafte lilafarbene Stoffhosen trug. Auch ich bin von Herzen unsportlich, habe aber an Wochenenden eisern trainiert, damit sie mich bei der Mannschaftsaufstellung für Volleyball nicht als Letzte verhungern ließen. Und ich habe jede Mark zusammengekratzt, um mir knallenge Wrangler-Jeans zu kaufen. Und trotzdem gab es manche Teenie-Party, zu der sie mich nicht eingeladen haben. Ein bleibendes Trauma.
Eines allerdings verband mich mit meinem Co-Streber: Wir sorgten für den sozialen Schmierstoff in der Klasse. Wir starteten einen von vornherein aussichtslosen Aufstand gegen einen Lehrer, der kurz vor dem Abitur einen Mitschüler durchrasseln ließ. Wir gründeten die Schülerzeitung, füllten die Abizeitung, verteidigten sie gegen Eingriffe von oben, leierten Hilfstransporte nach Polen an und zettelten den Abistreich an. Das verlangten sie von uns, die anderen Schüler. Ihr könnt euch das leisten, sagten sie, ihr mit euren guten Noten, euch kann ja keiner was. Recht hatten sie. Das ist ja auch im späteren Leben so: Eliten haben soziale Verantwortung.
Aber erst mal Elite werden. Macht keinen Spaß in Deutschland. Lieber Matheflasche und später Konzernbilanzen fälschen. Lieber Legastheniker und später für jede Tischrede einen Ghostwriter brauchen. Lieber Sitzenbleiber und später jede Reform aussitzen.
Von Ursula Ott, GEO WISSEN. Die Kölner Autorin, 39, wurde kürzlich von einer Jugendliebe gefragt "Bist du eigentlich immer noch so eine Matheflasche?". Ihre Abitur-Note in dem Fach: 1,0. Offenbar hatte sie mit Erfolg das Image geflegt, Mädchen verstünden nichts von Mathematik.