Digitaler Schulunterricht "Deutschland ist weit abgeschlagen"

Der Unterricht in Deutschland könnte digital, modern, anders sein - ist er aber nicht, sagt Informatiker Christoph Meinel. Im Interview erklärt der Chef des Hasso-Plattner-Instituts, was sich ändern muss.
Tablet-Einsatz an einer Schule im niedersächsischen Hatten (Archivbild)

Tablet-Einsatz an einer Schule im niedersächsischen Hatten (Archivbild)

Foto: Carmen Jaspersen/ picture alliance/dpa

SPIEGEL: Herr Meinel, Sie sind 65 Jahre alt, Ihre Schulzeit liegt also schon ein halbes Jahrhundert zurück. Würden Sie lieber heute zur Schule gehen?

Christoph Meinel: Ach, jede Zeit hat ihre Herausforderungen. Wenn ich mich an meine Schulzeit erinnere - da ging es um die Frage, wie Bewegtmedien in den Unterricht eingeführt werden können. Also diese kleinen Super-8-Filme, die von den Medienstellen bezogen wurden. Der Gedanke, dass man zur Illustration, zur Förderung von Diskussion, zur Vertiefung des Unterrichtsgesprächs auch Medien heranzieht, ist also nicht so neu. Das ist heute nur viel einfacher als früher.

Zur Person
Foto: Ralf Hirschberger/ DPA

Christoph Meinel, Jahrgang 1954, ist Direktor und Geschäftsführer des Hasso-Plattner-Instituts für Digital Engineering sowie Dekan der Digital Engineering Fakultät der Universität Potsdam.

SPIEGEL: Ein Bericht Ihres Instituts konstatiert: Die digitale Transformation durchdringt das Bildungssystem. Stimmt das überhaupt? Mir kommen die Schulen recht analog vor.

Meinel: Es gibt innerhalb Deutschlands an den Schulen sehr große Unterschiede. Andere Staaten in Europa und erst recht in der Welt sind da schon deutlich weiter, zum Beispiel Finnland, Dänemark oder Australien.

SPIEGEL: Und Deutschland?

Meinel: Deutschland ist, sagen wir es mal so, weit abgeschlagen.

SPIEGEL: Wo sehen Sie die Probleme?

Meinel: Das fängt bei der Infrastruktur an: Habe ich als Lehrer, wenn ich es möchte, technisch überhaupt die Möglichkeit, digitale Inhalte in den Unterricht einzubeziehen? Da sieht es oft überhaupt nicht gut aus. Die Breitband-Anbindung der Schulen und deren WLAN-Ausleuchtung ist nicht gewährleistet - und damit auch keine Möglichkeit, digitale Inhalte einfach im Unterrichtsgeschehen zu nutzen.

SPIEGEL: So teuer kann das doch nicht sein. Woran hapert es?

Meinel: Das ist auch mir ein Rätsel. Eine Schule entsprechend auszustatten, ist kein großes finanzielles Problem. Die meisten Schüler haben doch längst einen Breitband-Anschluss zu Hause. Warum das in den Schulen so schwer ist, erschließt sich mir nicht. Vielerorts hat sich da nur wenig getan, viele Schulen haben sogar noch sogenannte Rechner-Kabinette. Ein Begriff, den ich sehr schön finde, weil er die Antiquiertheit des Status quo aufzeigt!

SPIEGEL: Was spricht denn gegen Computerräume?

Meinel: Die Rechner, die dort stehen, sind aufwendig zu administrieren, und man braucht sie allenfalls im fortgeschrittenen Informatikunterricht. Für alle anderen Zwecke aber nicht! Da reicht schon ein Tablet oder Smartphone, wie es ohnehin praktisch jeder Schüler hat, völlig aus. Damit ist die Voraussetzung gegeben, um die unterschiedlichsten Lernsoftwares zu nutzen und damit etwa Unterrichtsinhalte zu vertiefen oder zu veranschaulichen. So gesehen haben wir heute eigentlich ideale Voraussetzungen: Fast jeder Schüler besitzt bereits das Gerät, das es für modernen Unterricht braucht. Die Schulen müssen entscheiden, wie es genutzt werden soll.

SPIEGEL: Warum wird Lernsoftware dann nicht häufiger und konsequenter eingesetzt?

Meinel: Naja, auch das ist nicht einfach, nicht zuletzt aufgrund des Datenschutzes. Nach der momentan gültigen Gesetzgebung macht sich ein Lehrer strafbar, wenn er im Unterricht eine interaktive Lernsoftware einsetzt, ohne dass vorher alle Eltern dazu ihr Einverständnis gegeben haben. Der Grund ist, interaktive Lernsoftware verarbeitet personenbezogene Daten, um ganz individuell auf jeden Nutzer eingehen zu können. Das heißt, für jede Lernsoftware der verschiedenen Anbieter, für jede Sprache, jeden Vokabel-Trainer, jedes Mathematik-, Chemie-, Bio-Programm braucht es erneut diese Zustimmung. Auch das wollen wir mit unserer Schul-Cloud vereinfachen.

SPIEGEL: Womit wir beim Thema wären. Herr Meinel, wir reden heute auch miteinander, weil wir im SPIEGEL einen kritischen Bericht über die Schul-Cloud Ihres Instituts veröffentlicht haben - den Sie wiederum wegen falscher Behauptungen sehr kritisiert haben. Lassen Sie uns doch erst einmal klären: Was ist eine Schul-Cloud?

Meinel: Man kann sie sich als eine digitale Lernumgebung vorstellen. Ein Schüler oder ein Lehrer loggt sich ein - wann auch immer er möchte, wo auch immer er ist - und hat dann alle Möglichkeiten. Er kann digitale Dokumente erstellen, Präsentationen vorbereiten, sich mit anderen austauschen, gemeinsam an Projekten arbeiten und Lernsoftware jeder Art nutzen. Auch die datenschutzrechtlichen Probleme lassen sich hier lösen, über eine Pseudomisierung bedarf es nicht immer wieder neu einer Zustimmung der Eltern. Es geht also nicht etwa nur um eine Art großen Schulserver, der die Verwaltung und Organisation erleichtert, sondern um ein umfassendes pädagogisches System, das anderes Lernen auch mit neuen digitalen Inhalten ermöglicht. Unser Institut entwickelt eine solche Schul-Cloud, dafür erhalten wir über fünf Jahre eine Zuwendung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in einer Gesamthöhe von sieben Millionen Euro - also verglichen mit Entwicklungskosten in Unternehmen sehr bescheiden. Ohne die engagierte Mitwirkung vieler Studenten wäre ein solches Projekt nicht zu stemmen.

SPIEGEL: An wie vielen Schulen wird sie bisher eingesetzt?

Meinel: Wir arbeiten jetzt im Moment bundesweit mit rund 100 Schulen zusammen, die einem Exzellenz-Cluster von Schulen angehören, die auf MINT-Fächer spezialisiert sind. Bis zum Projektende 2021 sollen es 300 Schulen sein. Darüber hinaus kooperieren wir mit einzelnen Bundesländern: In Niedersachsen sind 45 Schulen beteiligt, in Brandenburg ab dem nächsten Schuljahr zunächst 54 Schulen.

SPIEGEL: Unsere Kritik lautet unter anderem: Sie entwickeln etwas, das Private bereits anbieten. Warum machen Sie das?

Meinel: Überlegen Sie doch einmal, wir würden alle Schulen in Deutschland zum Beispiel mit Google Classroom ausstatten. Mir stellen sich da sofort viele Fragen. Unter anderem: Sollen alle Inhalte, die unsere Schüler erzeugen, die Texte, die Präsentationen, die Interaktion, die Kommunikation, die Klassenarbeiten, in die Google Cloud? Sollen ihre Lernstände, ihre Schwächen und Stärken, für immer festgehalten werden in einer Cloud außerhalb Europas oder Deutschlands, wo deutsche Gesetze nicht gelten? Wer sagt mir denn, was mit all den Daten dort passiert? Insbesondere für den hochsensiblen Bildungsbereich finde ich das keine angemessene Lösung. Ein Staat, zumal ein großer, reicher wie Deutschland, sollte so etwas nicht einfach und ohne Not aus der Hand geben. Und nur nebenbei will ich auch darauf hinweisen, dass Systeme wie Google Classroom nicht von den Datenschützern freigegeben sind.

SPIEGEL: Eine solche Freigabe gibt es aber doch für die Cloud Ihres Instituts auch noch nicht.

Meinel: Wir sind in einem ständigen Austausch mit der Arbeitsgemeinschaft der Landesdatenschützer und haben fast alle deren Anforderungen bereits abgearbeitet. Das Grundverständnis ist hergestellt, und unsere Schul-Cloud weist einen gangbaren Weg, wie wir uns in diesem komplexen und auch sehr stark regulierten System sicher und rechtskonform bewegen können.

SPIEGEL: Die stellvertretende FDP-Vorsitzende Katja Suding sagt: "Der Staat muss nichts erfinden, was Private besser können." Wenn ich Sie richtig verstehe, sagen Sie: Bei der Schul-Cloud sollte der Staat es selbst machen, weil es Private eben nicht besser können.

Meinel: Wir müssen den Kontext sehen. Die Infrastruktur und ähnliches, das können natürlich private Anbieter übernehmen. Und am anderen Ende, bei der Lernsoftware, braucht es natürlich auch Unternehmen, die schon jetzt wirklich tolle Angebote machen. In dem Bereich dazwischen aber - in welchem die Daten erfasst und wie die gespeichert werden - muss der Staat sich fragen, ob er das wirklich vollkommen aus der Hand geben sollte. Ich finde: nein. Und genauso wenig sinnvoll ist es, dass jedes Bundesland oder gar jede Schule eine eigene Lösung für diese digitale Lernumgebung findet. Daher bin ich davon überzeugt, dass wir mit der Entwicklung einer bundesweit einsetzbaren Schul-Cloud das Richtige tun.

SPIEGEL: Bisher erreichen Sie nur wenige Hundert Schulen, es gibt in Deutschland aber Zehntausende. Wann geht es richtig vorwärts?

Meinel: Es ist ein toller Erfolg, dass wir bereits vor Projektende mit verschiedenen Bundesländern weitere Pilotprojekte aufsetzen und realisieren können. Aber natürlich ist die digitale Transformation aller deutschen Schulen ein dringendes Thema, das innerhalb der nächsten fünf Jahre gelöst werden muss - Deutschland ist schon jetzt zehn Jahre zu spät dran.

SPIEGEL: Wagen wir einen Blick in Zukunft: Wenn Sie in 50 Jahren noch einmal zur Schule gehen würden - wie sähe die aus?

Meinel: Ich glaube nicht, dass ich noch auf die Schule angewiesen bin, um zu lernen. Das könnte ich genauso gut an der Haltestelle machen, während ich auf den Bus warte. Wobei ich wahrscheinlich gar nicht mehr warten muss, weil der Verkehr geregelt ist. Aber Spaß beiseite, bei aller digitalen Unterstützung des Lernens werden wir auch in Zukunft Räume und Orte für gemeinsames Lernen brauchen, denn die soziale Gemeinschaft ist auch beim digital unterstützen Lernen und für den Lernerfolg sehr wichtig.

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