Doppelporträt Mr. Pisa gegen Mr. Pisa
"Mr. Pisa" international: Andreas Schleicher
Sein Grundschullehrer in Hamburg hielt Andreas Schleicher nicht geeignet fürs Gymnasium. Doch sein Vater, ein Professor für vergleichende Erziehungswissenschaften, setzte sich darüber hinweg. Prompt absolvierte Andreas Schleicher eine mustergültige Bildungskarriere: Das Abitur schaffte er mit 1,0, eine Arbeit über computerisierte Spracherkennung brachte ihm einen "Jugend forscht"-Preis ein. Später studierte er in Hamburg und in Australien Physik sowie Mathematik mit dem Schwerpunkt Statistik.
Bei der OECD in Paris entwickelte der heute 43-Jährige die Pisa-Studie, deren für Deutschland schlechte Ergebnisse 2001 eine turbulente Debatte über das Schulsystem auslösten, wie es sie seit der Diskussion über die angebliche "Bildungskatastrophe" in den sechziger Jahren nicht mehr gegeben hatte.
Als "Mr. Pisa" konfrontierte der Mann mit dem markanten Schnauzbart die Deutschen mit unbequemen Wahrheiten - etwa, dass hierzulande wie in kaum einem anderen Land die soziale Herkunft über die Bildungschancen eines Kindes entscheidet. Vom bescheidenen Abschneiden Deutschlands im internationalen Vergleich war Schleicher, der inzwischen die Abteilung mit dem sperrigen Namen "Indikatoren und Analysen" im OECD-Direktorat für Bildung leitet, selbst überrascht.
"Es wird einfach so ins Blaue investiert"
Seitdem meldet er sich immer wieder mit offener Kritik am deutschen Schulsystem zu Wort. Als "Relikt aus dem 19. Jahrhundert" bezeichnete er letztes Jahr das dreigliedrige Schulsystem. Es "konzentriert die sozialen Probleme in den Hauptschulen, so dass sie kaum noch zu lösen sind". Schleicher plädiert vor allem für eine größere Durchlässigkeit des Schulsystems, aber auch für Studiengebühren.
Eine Motivation für die Ausarbeitung der Pisa-Studie war das Unbehagen des Naturwissenschaftlers darüber, wie wenige empirische Daten es über den Erfolg von Bildung gab. "Im Mittel geben die OECD-Staaten fast sechs Prozent des Bruttosozialprodukts für Bildung aus. Und wir wissen fast nichts über die Effektivität dieser Ausgaben. Es wird einfach so ins Blaue investiert. Kein Bereich der Wirtschaft könnte sich so wenig Aufwand für Qualitätssicherung leisten", so Schleicher in einem Interview 2003.
Der mit einer Italienerin verheiratete dreifache Familienvater, der vier Fremdsprachen beherrscht, hat sich mit seiner Kritik in Deutschland nicht nur Freunde gemacht. "Der selbsternannte 'Superminister' fliegt alljährlich einmal ein, um in das Klagelied über den Niedergang und die Provinzialität des deutschen Bildungssystems einzustimmen", schimpfte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" 2004 über den "Miesmacher".
Schleichers Autorität aber beruht gerade auf der fachlichen Qualität seiner Pisa-Studie. 2003 erhielt er den Theodor-Heuss-Preis für "beispielhaftes demokratisches Engagement", seit dem vergangenen Jahr ist er Honorarprofessor der Universität Heidelberg.
Im Dauer-Clinch mit den Kultusministern
Nun hat der Experte richtig Ärger mit den Kultusministern der unionsgeführten Länder, die ihn nach dem Durchsickern der ersten Pisa-Ergebnisse vergangene Woche zum Rücktritt aufforderten. Schleicher hatte erklärt, man könne nicht von einer Verbesserung der Schüler in Deutschland reden, da Pisa 2006 wegen einer veränderten Aufgabenstellung nicht mit den beiden früheren Studien vergleichbar sei.
Der andere "Mr. Pisa", der deutsche Leiter Manfred Prenzel, widersprach ihm allerdings. Und die Kultusminister der Union schäumten: "Aus ideologischen Gründen" könne Schleicher wohl nicht ertragen, wenn Deutschland durch erhebliche pädagogische Reformen besser geworden sei und sich nicht auf das Gleis der Schulstrukturdebatte begeben habe, wetterte Hessens Schulministerin Karin Wolff (CDU). "OECD-Schleicher untragbar", zürnte der Unions-Bildungspolitiker Marcus Weinberg.
Am Wochenende stellte sich die OECD uneingeschränkt hinter Schleicher, der "in verunglimpfender Art und Weise angegriffen worden" sei: Schleicher sei "ein weltweit anerkannter Bildungsforscher, der sich nicht nur mit der Entwicklung und Koordinierung des Pisa-Programms große Verdienste erworben hat", betonte Barbara Ischinger, OECD-Direktorin für Bildung. "Er genießt unser uneingeschränktes Vertrauen." Und Schleicher selbst sagte zu den Vorwürfen der Kultusminister: "Das ist doch alles eine absurde Posse."
Von Mirjam Mohr, AP
Mr. Pisa in Deutschland: Manfred Prenzel
"Mr. Pisa" national: Manfred Prenzel
Die Naturwissenschaften sind der Schwerpunkt von Pisa 2006. An der Spitze des deutschen Pisa-Konsortiums steht ein Mann, der dieses Themengebiet in- und auswendig kennt: Manfred Prenzel, seit 2000 Geschäftsführender Direktor des Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) an der Universität Kiel.
Als Institutsleiter erforscht er, wie Unterricht besser werden kann, als nationaler "Mr. Pisa" kann er sehen, ob die Methoden erfolgreich sind - ein Pragmatiker mit Ideen und Phantasie. Der 55-jährige Familienvater ist hierzulande weit weniger bekannt als der internationale "Mr. Pisa" Andreas Schleicher, der bei der OECD die Pisa-Studie entwickelt hat.
Nicht immer ziehen die beiden die gleichen Schlüsse aus ihrer Studie: So widersprach Prenzel nach dem vorzeitigen Durchsickern erster Ergebnisse Schleichers Aussage, die Ergebnisse seien wegen der veränderten Aufgabenstruktur mit denen der Vorgängerstudie nicht vergleichbar. "Die Ergebnisse von Pisa 2006 sind sehr wohl mit denen von 2003 vergleichbar, da die Rahmenkonzeption für Pisa 2006 die vorausgegangenen Konzeptionen aufgegriffen und fortentwickelt hat", erwiderte Prenzel.
"Unterricht entscheidend, nicht das Schulsystem"
Auch bei der Frage nach der Bedeutung des Schulsystems ist Prenzel, der sich mehr im Hintergrund hält, anderer Meinung. Während Schleicher immer wieder das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland kritisiert, sagt Prenzel, dass man bei internationalen Tests wie Pisa Beispiele für alle möglichen Schulsysteme finde: gute Beispiele für gegliederte Schulsysteme und für solche, die nur eine Schulart haben - aber auch für beide Varianten schlechte Beispiele. "Das alles weist eher darauf hin, dass das System nicht der letztlich entscheidende Faktor ist", meint Prenzel.
Für viel wichtiger hält er "das, was im Unterricht stattfindet, und ob die Schüler, egal welche Lernvoraussetzungen sie mitbringen, dort Anregungen finden weiterzulernen". Mit dieser Frage beschäftigt sich der habilitierte Pädagoge, den es in seiner Laufbahn vom tiefsten Süden in den höchsten Norden verschlug, schon seit geraumer Zeit in verschiedenen Funktionen.
Prenzel wuchs im fränkischen Forchheim auf und studierte dann Pädagogik, Psychologie und Soziologie. Nach Promotion und Habilitation in Pädagogik und Pädagogischer Psychologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München arbeitete er ab 1993 als Professor für Pädagogische Psychologie an der Universität Regensburg. 1997 kam Prenzel als Direktor der Abteilung Erziehungswissenschaft ans IPN nach Kiel und wurde zugleich Professor für Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die Lehr-Lern-Forschung, Bildungsmonitoring und internationale Leistungsvergleiche sowie Qualitätsentwicklung und Lehrerprofessionalität. Seit 2000 ist Prenzel Geschäftsführender Direktor des IPN.
"Kinder werden unterschätzt"
1998 startete unter Prenzels Leitung am IPN das auf fünf Jahre angelegte Modellversuchsprogramm der Bund-Länder-Kommission (BLK) zur "Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts". Später übernahm Prenzel die zentrale Evaluation im BLK-Modellversuchsprogramm "Qualitätsverbesserung in Schulen und Schulsystemen" und wurde Sprecher des DFG-Schwerpunktprogramms "Bildungsqualität von Schule". In Kiel stellte er Untersuchungen zur Förderung von Lernmotivation und Interesse im Unterricht an, er beschäftigt sich zudem mit Computeranwendung im naturwissenschaftlichen Unterricht und anderen Aspekten guten Unterrichts.
Bereits an der ersten Pisastudie 2000 war Prenzel als Mitglied des nationalen Pisa-Konsortiums beteiligt. Bei Pisa 2003 übernahm er die Federführung von Jürgen Baumert, den er bereits als IPN-Direktor abgelöst hatte, auch bei Pisa 2006 ist er der nationale Chef. Aus all seinen Erfahrungen mit pädagogischer Arbeit und Schulleistungsvergleichen hat der Vater dreier Kinder eine zentrale Erkenntnis gezogen: "Kinder werden unterschätzt."
Von Uwe Gepp, AP