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Kinofilm "Elternschule": "Ihr Kind will Sie nicht ärgern"

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Streit über Kindererziehung Der große Eklat

Kein Film ist 2018 so massiv angefeindet worden wie "Elternschule", eine Doku über eine Klinik für chronisch gestresste Kinder. Eltern und Ärzte sind zutiefst gekränkt - und fühlen sich gezielt missverstanden.

Ein Baby, das fröhlich gluckst, gut schläft, gern isst und bestens gedeiht. So stellen sich viele Eltern das glückliche Leben mit Kind vor.

Aber manchmal kommt es anders: Da geraten Eltern in einen Zustand von Verzweiflung, Erschöpfung, Mutlosigkeit. Dauernd kümmern sie sich, aber das Kind schreit trotzdem. Stundenlang. Es will nicht essen, nicht schlafen, lässt sich nicht beruhigen.

So geht es auch Lena Nolte. Als ihr Sohn Jonas 13 Monate alt wird, ist sie mit ihren Kräften am Ende. "Ich konnte einfach nicht mehr." Jonas braucht dauernd ihre Nähe, klammert und krallt sich an ihr fest, fordert ständig Aufmerksamkeit - und sie gibt dem nach. "Es war schwer, überhaupt mal unter die Dusche zu kommen. Ich habe auch Telefonate abgebrochen." Jonas leidet unter Neurodermitis, und seine Mutter tut alles, um ihn vom Kratzen abzuhalten. Schleppt ihn von einem Arzt zum nächsten, 35 Cremes werden ihm verschrieben - ohne Erfolg.

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Kinofilm "Elternschule": "Ihr Kind will Sie nicht ärgern"

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So landen beide in der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen. Eine Einrichtung, die sich um chronisch gestresste Kinder und deren Eltern kümmert. Jahrelang hat kaum jemand Zweifel daran, dass hier vielen Familien in Not geholfen wird - bis ein Filmteam auf der Station eine knapp zweistündige Dokumentation dreht und in diesem Herbst ein Trailer  des fertigen Films "Elternschule" die Runde macht.

Das löst einen in Deutschland bis dato beispiellosen Streit über Kindererziehung aus. Er zeigt, wie die ohnehin oft unversöhnlich geführte Debatte um "richtige" und "falsche" Pädagogik eskalieren kann - und wie missverstanden sich leidgeprüfte Eltern und betroffene Ärzte fühlen.

Vorwurf: Verherrlichung von "erzieherischer Gewalt"

Rückblick: Im September 2018 erscheint der Trailer, am 11. Oktober kommt "Elternschule" in deutsche Programmkinos.

Seitdem tobt der Protest:

  • Shitstorm im Internet: Der Film verherrliche "erzieherische Gewalt", in der "Horror-Klinik" würden "Kinderseelen gebrochen", heißt es in Kommentaren im Netz.
  • Mehr als 20.000 Menschen fordern in einer Petition, der Film dürfe nicht mehr gezeigt werden, die Vorgänge in der Klinik müssten geprüft werden: "Erziehungs-Erfolg zu verkaufen, weil Kinder aufgeben und aus Angst kooperieren, ist wie einem Hungernden Müll zu geben und zu sagen, es schmecke scheinbar, weil er es isst."
  • Vor der Klinik kommt es zur Protestdemo.
  • Ein Arzt erstattet auf Grundlage des Films Anzeige gegen die Klinik: Verdacht auf Misshandlung von Schutzbefohlenen.

An den Beschuldigten geht all das nicht spurlos vorbei. Wenige Wochen nach der großen Protestwelle ist der erste Schock überwunden - das Entsetzen nicht. Treffen in einem der Klinikspielzimmer mit dem Psychologen und Therapeutischen Leiter, Dietmar Langer, und Kurt-Andre Lion, ärztlicher Leiter der Abteilung Psychosomatik, Pneumologie und Allergologie: "Fassungslos." Das treffe ihren Gemütszustand am besten, sagen sie.

Immer noch ein Tabu: am eigenen Kind verzweifeln

Als Filmproduzent Ingo Fliess in den Raum kommt, nehmen sich die Männer zur Begrüßung in den Arm. Langer ärgert sich weder über ihn noch über den Film. "Wir haben dem Dreh zugestimmt, weil wir Eltern ermutigen wollten, sich Hilfe zu suchen", sagt er. "Da gibt es leider immer noch große Hemmschwellen."

Zuzugeben, mit den eigenen Kindern nicht klarzukommen, ist immer noch ein Tabu in dieser Gesellschaft. So sehen es auch Nolte und Svenja Rhode, eine weitere Mutter, die mit ihrem Sohn Devon, 9, vor wenigen Monaten in der Klinik war und nun am Gespräch teilnimmt. Bei anderen Ärzten habe ihnen gefehlt, dass sie mal zuhören, Stress als mögliche Ursache der Probleme erkennen, sagen die beiden Frauen.

Kurt-Andre Lion

Kurt-Andre Lion

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Mit dem fertigen Film seien alle zufrieden gewesen, sagt Lion. "Er zeigt, wie sich bei den Familien etwas zum Guten verändert." Umso entsetzter sei das Team nun über diesen "Vernichtungsfeldzug" und den Hass. "Wir wurden übelst in sozialen Netzwerken beschimpft", sagen die Mütter, die ihre richtigen Namen nicht in den Medien lesen möchten.

"Das Wichtigste: Spannung rausnehmen"

Die Patienten in Gelsenkirchen: Kinder wie Jonas und Devon, die unter Neurodermitis leiden. Kinder, die extreme Ein- und Durchschlafprobleme haben, das Essen verweigern, exzessiv schreien, sich nicht von ihren Eltern trennen können, chronisch gestresst sind. Die Klinik nimmt diese Kinder und ihre Hauptbezugsperson für drei Wochen stationär auf. Alle haben eins gemeinsam: Sie bringen eine lange Leidensgeschichte mit.

Ihr Kind habe kaum noch geschlafen und sie auch nicht, erzählt Rhode, zeitweise alleinerziehend mit zwei Kindern, daneben berufstätig. "Man weiß nicht, wie es weitergehen soll", sagt sie. "Das Schlimmste war, dass ich meinem Kind irgendwann Vorwürfe gemacht habe: 'Du darfst nicht kratzen, sonst wird es schlimmer.'" Alles habe sich nur noch um die Krankheit gedreht. "Man fühlt sich so schlecht und fragt sich: Was mache ich bloß verkehrt?"

Die Verzweiflung von Eltern wird auch im Film deutlich: Eine Mutter sagt, ihr Baby habe zu Hause bis zu 14 Stunden am Stück geschrien. Eine andere meint, wenn es hier nicht klappe, müsse sie ihre Tochter ins Heim geben. Die Klinik als letzte Rettung.

"Trennungstraining und Fantasiereisen"

"Das Wichtigste: Spannung rausnehmen", so lautet ein Schlüsselsatz von Langer im Film und nun im Gespräch, wenn er erklärt, wie Familien aus der Not finden können: Kinder und Eltern in typischen Stresssituationen trennen, ungesunde Verhaltensmuster aufbrechen, Eltern-Kind-Bindung neu aufbauen.

Dietmar Langer

Dietmar Langer

Foto: Zorro Film

Rhode sagt, bei der Ankunft in der Klinik sei sie zunächst irritiert gewesen, ebenso wie ihr Sohn: kein Krankenzimmer mit Fernseher, keine Medikamente, stattdessen der Arzt Lion, der sagt: "Wenn es juckt, dann kratz doch." Fantasiereisen, freies Spiel, autogenes Training für Mutter und Kind.

Nolte hat unter fachlicher Anleitung "Trennung" mit ihrem Sohn geübt. Er schlief nachts zeitweise ohne sie. Und er ging tagsüber zeitweise in ein Spielzimmer - auch ohne sie. Klinikmitarbeiter kümmerten sich jeweils um ihn, bis Nolte ihn wieder abholte. "Ich fand das hart zu Beginn", sagt die Mutter. "Aber letztlich haben wir dadurch beide gelernt: Trennung ist nichts Gefährliches."

Vorwurf: Kindesmisshandlung

Im Film sind Ausschnitte dieser Therapiemaßnahmen zu sehen, darunter auch solche: In einem Gitterbett sitzende Kinder, die allein zum Schlafen in einen Raum geschoben werden. Exzessiv schreiende Kinder, die lernen sollen, sich allein wieder zu beruhigen. Wie der kleine Joshua, der minutenlang laut weinend unter einem Waschbecken sitzt. Es sind Szenen wie diese, die für Zuschauer schwer auszuhalten sind - und für Kritiker Anlass, von Kindesmisshandlung zu sprechen.

"Elternschule" hat einen gesellschaftlichen Nerv getroffen. Denn die Doku wird weniger mit psychosomatischen Erkrankungen als vielmehr mit einem anderen Thema verknüpft: Kindererziehung. Dieser Diskurs ist stark ideologisch aufgeladen und von Extrempositionen geprägt. Toleranz? Fehlanzeige. Zwischentöne? Gehen oft unter.

Da wird einerseits vor Kindern als "Tyrannen" gewarnt, die mit Druck diszipliniert werden müssten. Tenor: zurück zur autoritären Erziehung. Andererseits grenzen sich Menschen genau davon strikt ab, bis hin zu extremen Gegenmeinungen. Eltern, meist sind Mütter gemeint, sollten ihre Bedürfnisse maximal zurückstellen. Kinder sollten ihre Bedürfnisse maximal ausleben können. Immer. Dazwischen: viel Unsicherheit.

Film "Elternschule"

Film "Elternschule"

Foto: Zorro Film

Je nachdem, wo sich Menschen in diesem Diskurs verorten und wie bereit sie sind, alle Facetten von "Elternschule" wahrzunehmen, lesen sie aus dem Film unterschiedlichste Botschaften:

  • ein Plädoyer für liebevolle, aber konsequente Erziehung, die Kindern Grenzen setzt, Halt bietet und Eltern vor dem Zusammenbruch bewahrt;
  • die Aufforderung, minderjährige Egoisten mittels erwachsener Übermacht und Strenge kühl in ihre Schranken zu weisen.

Kinderschutzbund rät Eltern von dem Film ab

Eine Rezensentin der "Süddeutschen Zeitung" schwärmt: "Für alle, die Kinder haben, ist der Film ein Muss." Dagegen steht heftige Kritik. Angeheizt wird die Debatte vor allem aus der Attachment-Parenting-Szene, etwa von Herbert Renz-Polster, einem Kinderarzt, der Bücher über Erziehung schreibt: Der Film zeige, wie das Verhalten eines Kindes mit Zwang korrigiert werden könne, bis es seinen Protest aufgebe. "Kindererziehung ist so nicht von Hundeerziehung zu unterscheiden", schreibt Renz-Polster.

Attachment Parenting

Der Begriff wird meist übersetzt mit bindungsorientierter oder bedürfnisorientierter Erziehung. Dabei geht es darum, dass die Eltern-Kind-Bindung, insbesondere die Beziehung des Kindes zur Mutter, besonders gefördert wird. Die Mutter soll maximal auf Signale und Bedürfnisse des Kindes reagieren und ihm körperlich sehr eng und nah sein. Der Begriff Attachment Parenting stammt von dem US-Kinderarzt William Sears. Kritiker monieren, dass dieser Erziehungsansatz vor allem Frauen maximal einbindet und etwa eine Erwerbstätigkeit mindestens erschwert.

Experten und Laien steigen in die Kritik ein, positionieren sich auf beiden Seiten. Der Deutsche Kinderschutzbund rät Eltern angesichts des "gewaltvollen Charakters vieler Szenen" davon ab, sich die Doku anzusehen. Eltern dagegen, die in der Klinik waren und eine Selbsthilfegruppe gegründet haben, betonen: Familien fänden durch die Therapie wieder zueinander. Die Essener Staatsanwaltschaft stellte Ermittlungen nach einer Strafanzeige ein: Es gebe keine Hinweise auf strafbare Handlungen. Aber all das fängt die Proteste nicht mehr ein.

"Das ist kein Erziehungsratgeber"

Elternschule: Im Labyrinth

Elternschule: Im Labyrinth

Foto: Zorro Film

Die betroffenen Mütter, Psychologe Langer und Arzt Lion stehen dem halbwegs ratlos gegenüber. Sie mutmaßen: Einigen Kritikern gehe es vor allem um mediale Aufmerksamkeit und Selbstvermarktung. Der Film werde jedenfalls gezielt missverstanden: "Das ist kein Erziehungsratgeber." Die Methoden seien nicht eins zu eins zum Nachmachen gedacht.

"Trotzig sein, nicht durchschlafen, zu Mama und Papa ins Bett wollen oder nicht essen wollen - das sind normale Verhaltensmuster von Kindern", sagt Langer. "Aber bei unseren Patienten sind sie so exzessiv und extrem ausgeprägt, dass es sich nicht um akute, momentane Nöte handelt. Die Kinder stehen unter Dauerstress. Wir helfen Eltern, anders damit umzugehen."

Aber: Es gehe keineswegs darum, dass sie bisher in der Erziehung versagt hätten, wie oft behauptet werde. Weder Eltern noch Kinder hätten Schuld am Stress. "Wenn ich von Kindern als 'größten Egoisten auf dem Planeten' spreche, heißt das nicht, dass die ihre Eltern tyrannisieren wollen", sagt Langer. "Sie wollen Bedürfnisse durchsetzen aus einem Überlebenstrieb heraus. Meine Botschaft ist: 'Ihr Kind will Sie nicht ärgern.'"

Eltern müssten Bedürfnissen nachkommen, aber auch Führung übernehmen. "Das hat nichts mit autoritärer Erziehung zu tun", sagt Langer. Aber davor würden sich viele Eltern scheuen, und dann fehle dem Kind Sicherheit. Gepaart mit einem komplizierten Krankheitsbild oder auch traumatischen Erlebnissen könne es in Dauerstress geraten.

"Das Kind mit anderen Augen sehen"

Und genau deshalb geht es in "Elternschule" ebenso wie in der Klinik eben auch um Erziehung, nur nicht so platt wie manche denken. Da sind sich Filmproduzent Fliess, selbst dreifacher Vater, und die beiden Mütter einig. Als Langer im Film sagt: "Wir machen uns ein Bild von unserem Kind", Eltern müssten es mit neuen Augen sehen und ihm vielleicht auch mehr zutrauen, da sei er vor Scham rot angelaufen, sagt Fliess. Den Blick auf die eigenen Kinder zu verändern, das könne "Elternschule" sehr wohl leisten.

Noltes Sohn ist inzwischen 16 Jahre alt. Sie gehört zu einer Selbsthilfegruppe von Eltern, die mit ihren Kindern in der Klinik waren, und sagt: Eltern müssten nicht alle denselben Weg in der Erziehung gehen und richtig finden. "Es gibt viele Wege. Aber ich habe von Langers Vorträgen über Psychosomatik, Stressregulation und liebevoll konsequente Erziehung viel gelernt, zum Beispiel, die Emotionen meiner Kinder auszuhalten, dass sie auch mal wütend und trotzig sein dürfen."

Noch eine Erkenntnis: "Ein Kind darf mal allein sein, wenn Eltern dann auch wieder intensiv Zeit mit ihm verbringen - ohne dass sie im Alltag dauernd am Handy oder mit den Gedanken woanders wären." Rhode findet, sie und ihr Sohn könnten heute viel besser mit Stress umgehen. Auch Devons Haut sei deutlich besser geworden. Sie selbst habe vor allem eins gelernt: loslassen.

Der Streit um "Elternschule" habe der Debatte um Erziehung sehr geschadet, finden die beiden Frauen. Der Druck auf Eltern, die Erwartung vor allem an Mütter, sie müssten alles richtig machen, dauerpräsent sein und funktionieren, sei dadurch noch größer geworden.

2019 kann die Diskussion immerhin neu geführt werden. Im Spätsommer soll der Film im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt werden.

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