Streit über Schul-Informatik "Wir machen eine Rolle rückwärts"

Schüler in Dresden: Vorbildlicher Informatikunterricht am Kreuzgymnasium
Foto: Hilmar SchmundtHannah, ein aufgeweckter Teenager, malt gerade ein rotes Cabrio aus. Detailliert beschreibt sie das Gefährt, Zeile um Zeile, mit Worten wie diesen: "auto.verschieben(50,0)".
Hannah schreibt keinen Aufsatz, sondern den Code einer Vektorgrafik, mit Hilfe der Programmiersprache EOS. Auf dem Bildschirm entsteht ein Klötzchen mit zwei Kullern, das mit viel Phantasie als Auto durchgeht.
Mittwochvormittag im Computerraum des Kreuzgymnasiums. Ein Dutzend Achtklässler sitzt vor Monitoren, tippt, tuschelt, programmiert.
Der Informatikunterricht an der Dresdner Schule gilt als vorbildlich in Deutschland. Seit der fünften Klasse lernen die Kinder hier, wie man mit Computern umgeht. Es ist ein Fach wie Mathe oder Bio, hinzu kommt das übliche bildungsbürgerliche Pensum: Latein, Chorsingen, Orchester, Theater.
Doch zählt Informatik wirklich zum Allgemeinwissen in der modernen, durchdigitalisierten Welt? Oder ist Programmieren Zeitvergeudung, ein Modefach mit begrenzter Haltbarkeit? Darum tobt derzeit ein Streit an vielen Schulen.
Josef Kraus beispielsweise kann dem Programmieren an der Schule nicht viel abgewinnen: "Was den computerisierten Unterricht angeht, hat sich die Euphorie bei Eltern und Lehrern auf ein vernünftiges Maß reduziert", sagt er. Seit 26 Jahren ist er Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, er hat gegen die Rechtschreibreform und die Pisa-Studien gewettert. Er trägt das Bundesverdienstkreuz am Bande, sein Wort hat Gewicht.
"Die Schüler müssen ja auch nicht wissen, wie eine Schreibmaschine funktioniert", sagt er. "Hauptsache, sie können sie bedienen."
Estland lässt sogar Erstklässler programmieren
In Großbritannien sieht man das anders. Dort wird derzeit das Schulfach Informatik umgekrempelt, befeuert durch einen alarmierenden Report der Royal Society aus dem Jahr 2012.
Wer Informatik nicht zur Allgemeinbildung zähle, so warnen darin die Experten, versündige sich an der Chancengerechtigkeit: 9,2 Millionen Menschen in Großbritannien seien "digital ausgeschlossen" - das entspricht 15 Prozent der Bevölkerung.
Schon in der Grundschule sollten die Kinder mit einfacher Software wie Scratch programmieren lernen, empfiehlt die Royal Society. Nur so lasse sich vermeiden, dass sich Geschlechterrollen verfestigen: Der Jungsanteil im Abi-Leistungskurs Informatik lag 2011 auf der Insel bei 92,5 Prozent.
Andere Länder haben bereits umgesteuert und nationale Computer-Lehrpläne entwickelt: Indien, Südkorea, Israel, USA, Neuseeland. Estland lässt sogar Erstklässler programmieren. In Deutschland dagegen bastelt jedes Bundesland an eigenen Ansätzen, meist ohne systematische Begleitforschung.
"Wir verpassen gerade einen dringenden Umbau der Allgemeinbildung", warnt Steffen Friedrich, Professor für Didaktik der Informatik an der TU Dresden. In lediglich drei Bundesländern wird derzeit Informatik als Pflichtfach vorgeschrieben, zumindest für einige Jahrgangsstufen: in Bayern, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Die anderen Bundesländer setzen zumeist auf anwenderorientierte Einführungskurse in Word und Web, oder auf fächerübergreifende Medienkunde, zum Beispiel durch den Einsatz von Google Maps im Geografieunterricht. Andere glauben, dass Notebook-Klassen und Smartboards statt Kreidetafeln die beste Antwort sind.
"Informatik ist kein Orchideenfach"
"In Hamburg machen wir gerade eine Rolle rückwärts", ärgert sich Norbert Breier, Erziehungswissenschaftler an der dortigen Universität. Bislang galt der Informatikunterricht an den Hamburger Stadtteilschulen in der siebten bis zehnten Klasse als gleichberechtigtes Themenfeld neben Physik, Chemie und Biologie.
Am 28. Mai haben die Deputierten der Behörde für Schule und Berufsbildung den Vorschlag zur Gesetzesänderung gegen den Willen der Schülerkammer und Lehrerkammer angenommen.
Damit wird die Informatik wieder zurückgestuft in den Wahlpflichtbereich, "aufgrund zahlreicher berechtigter Einwände von Eltern, Schulleitern und Fachleuten", wie es heißt. Die Gesellschaft für Informatik hatte vergebens eine Petition gegen die "schwerwiegende Fehlentscheidung" des Hamburger Schulsenators gestartet. Seitdem kocht der Streit hoch.
"Die Entscheidung in Hamburg, Informatik aus dem Kanon der naturwissenschaftlichen Pflichtfächer herauszunehmen, ist grundfalsch", wetterte prompt Bernhard Rohleder vom Lobbyverein Bitkom in einer Pressemitteilung: "Informatik ist kein Orchideenfach für ganz besonders Interessierte, Informatik muss als Teil der Allgemeinbildung begriffen werden. Der Bitkom fordert deshalb die Einführung von Informatik als Pflichtfach in der Sekundarstufe I."
Die Hürden für die Adelung zum Pflichtfach sind hoch, und das oft zu Recht. Wer das Curriculum leichtfertig alle paar Jahre umstellt, droht den kurzlebigen Bindestrich-Fächern hinterherzuhecheln: Umwelt-Erziehung, Gewalt-Prophylaxe, Ethik-Lebensgestaltung. Andererseits: Wenn die Gesellschaft sich wandelt, sollten es auch die Fächer tun.
"Es ist genau wie vor hundert Jahren", sagt Breier: "Damals galt das Gymnasium als Altsprachenschule, der bildungsbürgerliche Kanon fußte vor allem auf Latein und Griechisch." Über Mathe und Biologie rümpfte man die Nase. Was brachte den Durchbruch? Breier macht sich keine Illusionen: "Der Druck der Industrie".
Die praktischen Probleme sind gewaltig, und sie bilden einen Teufelskreis: Die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre (G8) macht es schwer, alle Fächer angemessen zu berücksichtigen. Hinzu kommt ein Mangel an Informatiklehrern. Zu wenige Lehrer wiederum gibt es nicht zuletzt auch deswegen, weil zu wenige Schüler und Studenten an die Computerei herangeführt werden.
Informatik beschreibt die Welt der Information
Bayern habe das Problem als Chance begriffen, sagt Peter Hubwieser, Professor für Didaktik der Informatik an der TU München: Als in den Nullerjahren die Lehrpläne für Gymnasien umgeschrieben werden mussten, wurde kurzerhand das Pflichtfach Informatik eingeführt.
Zehn Jahre nach dieser Lehrplanänderung in Bayern werden Erfolge sichtbar: Das Interesse am Informatikstudium ist gestiegen, Hubwieser bildet mehr Computerpauker aus als je zuvor. Bayern hat mittlerweile mehr als 600 studierte Informatiklehrkräfte an den Gymnasien. Allerdings fehlen immer noch rund 500.
"Das vielleicht größte Problem des Informatikunterrichts ist allerdings hausgemacht", sagt Hubwieser: eine babylonische Begriffsverwirrung, was Informatik-Allgemeinbildung überhaupt sein soll. Die Fachlehrerschaft ist gespalten: Ein Viertel der Pädagogen stellt Bürosoftware in den Mittelpunkt des Unterrichts, fast ein Fünftel will vor allem programmieren, über zehn Prozent lehnen das Programmieren strikt ab, knapp die Hälfte bevorzugt eine Mischung. Das hat Hubwieser in einer Befragung unter gut tausend Fachlehrern herausgefunden. Viele sind neben dem Unterricht außerdem für die Wartung der Geräte zuständig, das Fach leidet an geringem Ansehen und vielen Überstunden.
Dabei hat sich längst ein internationaler Konsens herausgebildet, dass guter Informatikunterricht nicht Spezialwissen, sondern systematische Grundlagen vermitteln sollte: Chemie beschreibt die Welt der Stoffe; Biologie die Welt des Lebens; Informatik die Welt der Information, ihre Berechnung, Verteilung, Speicherung.
Programmiersprachen veralten oft schnell, sagen Kritiker
Kreuzgymnasium Dresden, erste Stunde. "Auch Fahrstühle werden von Computern gesteuert", erklärt die Lehrerin Sabine Zuschke. "Statt per Tastatur erfolgt die Eingabe über die Stockwerksknöpfe. Wie spuckt ein Fahrstuhlcomputer seine Ergebnisse aus?" Die siebte Klasse grübelt. "Über das Licht?", ruft ein Junge forsch. Nein. Nach kurzer Diskussion die Lösung: Fahrstuhlcomputer liefern die Resultate ihrer Berechnung, indem sie über den Motor das richtige Stockwerk ansteuern und die Tür öffnen.
Allgemeines Staunen. Die versonnenen Gesichter zeigen, wie informatisches Denken die bekannte Welt in neuem Licht erscheinen lässt. Informatik stellt Werkzeuge fürs Denken bereit, ähnlich wie Bruchrechnen oder das Auseinanderhalten von direkter und indirekter Rede.
Bürosoftware und Programmiersprachen veralten oft schnell, wenden Kritiker des Informatikunterrichts ein. Die Verfechter dagegen verweisen darauf, dass die Grundlagen bestehen bleiben, selbst wenn sich die Art der Anwendungen verändern mag: Wer einmal verstanden habe, wie Tauschbörsen funktionieren, der werde dieses Peer-to-Peer-Prinzip in immer neuen Kontexten erkennen. Das sei das Gedankenwerkzeug, um qualifiziert über Copyright, Kreativität und Gerechtigkeit in einer digitalisierten Welt mitdiskutieren zu können.
Wer lernen will, ist auf Selbsthilfe angewiesen
Längst gibt es gutausgearbeitete Lehrkonzepte nach dem sogenannten Darmstädter Modell, die international anerkannt sind. Bei ihrer Umsetzung jedoch halten sich Bund und Länder bisher weitgehend zurück. Wenn Schüler den Umgang mit Computern lernen wollen, sind sie oft auf Selbsthilfe angewiesen.
"Ich habe mir selbst Javascript beigebracht", sagt Leon Kay, ein Zehntklässler aus Berlin. In der Schule hat er ein wenig HTML gelernt, die Sprache, aus der Websites aufgebaut sind. Aber das reicht ihm nicht. Er will später Hörgeräte und Herzschrittmacher entwickeln, dafür paukt er nach der Schule Informatik. Seine Schule heißt Codecademy.
Codecademy ist ein Start-up aus New York, dessen Website interaktive Kurse zu Programmiersprachen wie Python und Ruby bietet. Über eine Million Autodidakten drücken die virtuelle Schulbank, auch Michael Bloomberg ist wieder Anfänger. Im Brotjob ist er Multimillionär und Bürgermeister von New York City.
Doch Initiativen wie Codecademy erreichen oft nur eine Elite. Den Allgemeinbildungsauftrag der Schule können sie nicht ersetzen.
Kreuzgymnasium Dresden, zweite Stunde. Sabine Zuschke erklärt, was der Unterschied zwischen Pixelgrafiken und Vektorgrafiken ist: Ein Bild, das aus einzelnen Bildpunkten (Pixeln) aufgebaut ist, wird unscharf, wenn man es vergrößern will. Vektorgrafiken dagegen geben nur Eigenschaften wie Dicke, Farbe oder Form einer Linie an. Deshalb lassen sie sich beliebig vergrößern. Handyfotos setzen auf Pixel, Navigationsgeräte dagegen auf Vektorgrafiken.
Hannahs rotes Cabrio ist inzwischen fertig, darüber strahlt eine gelbe Sonne, immer wieder studiert sie die gut 50 Zeilen Code, die sie mühsam Zeichen für Zeichen formuliert hat. Eine Traube von Schülern versammelt sich um ihren Sitznachbarn Jonathan: Der hat seinen Geländewagen sogar zum Fahren gebracht. Die Lehrerin sieht darin einen wunderbaren Lernerfolg: "So ähnlich werden viele Computerspiele gemacht", sagt sie, "nur eben viel komplizierter."
Dies ist die aktualisierte Fassung eines Artikels, der im SPIEGEL Nr. 20 vom 13. Mai 2013 erschienen ist.