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Digitalisierung: "Wenn du nicht digital bist, bis du kein Este"

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Digitales Klassenzimmer Warum Estlands Schüler den deutschen weit voraus sind

Was für deutsche Lehrer die Kreide ist, ist für ihre estnischen Kollegen das Tablet. Das kleine baltische Land hat uns in Sachen Bildung längst abgehängt. Ein Besuch im digitalen Klassenzimmer.

Riina Leppmaa betrachtet ihre Schüler auf einem Bildschirm, auch wenn sie im selben Raum sind. Leppmaa ist Klassenlehrerin an einer Schule in Tallinn, der Hauptstadt von Estland. Heute unterrichtet sie ihre dritte Klasse in Mathematik. Die Aufgaben stehen auf einem Smartboard - eine interaktive Tafel. Leppmaa kann darauf schreiben, Texte einblenden oder Videos zeigen. Diesmal geht es um eine Textaufgabe: In einen Bus steigen sieben Leute, es gibt aber nur zwei freie Plätze. Wie viele Menschen müssen stehen? Zur Auswahl stehen vier mögliche Antworten.

Vor jedem Schülern liegt eine Karte mit einer Art QR-Code. Jede der vier Seiten steht für eine andere Antwortmöglichkeit: a, b, c oder d. Die Kinder halten die entsprechende Seite nach oben, und ihre Lehrerin scannt die gesamte Klasse mit dem Tablet ab. Nach Sekunden weiß Leppmaa, wer richtig geantwortet hat und wer nicht. Das Resultat erscheint automatisch auch auf dem Smartboard.

Was sich für deutsche Lehrer nach ferner Zukunft anhören mag, ist in Estland längst normal. Seit 1999 sind alle estnischen Schulen ans Internet angeschlossen, ab 2020 soll es alle Schulbücher auch digital geben. Jedes Jahr gibt Estland laut OECD  fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung aus, in Deutschland sind es nur 4,3 Prozent. Das baltische Land mit gerade einmal 1,3 Millionen Einwohnern ist digitaler Vorreiter in Europa.

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Das ist auch in den Schulen spürbar. "Jeder Klassenraum hat einen Beamer und Lautsprecher, in einigen gibt es auch Smartboards. Zudem findet der normale Unterricht regelmäßig im Computerraum statt - egal in welchem Fach", sagt der Schulleiter des Tallinna Saksa Gümnaasium, Kaarel Rundu. Außerdem gibt es Programmieren und Robotik als Wahlfächer und jeweils zwei Klassensätze Tablets und Laptops.

Die Schüler einer neunten Klasse schreiben gerade einen Mathematiktest, die Fragen rufen sie mit ihrem Smartphone ab. Wer keines hat, arbeitet am Computer oder bekommt von der Schule einen Laptop oder ein Tablet gestellt. Im Computerraum nebenan hat eine zweite Klasse Estnisch-Unterricht. Die Kinder sitzen vor den Rechnern und lösen gemeinsam mit der Lehrerin verschiedene Aufgaben. Einige sind schnell fertig und langweilen sich, sie bekommen mit einem Klick Extra-Aufgaben. Im Keller der Schule surrt ein 3D-Drucker, die Schüler haben schon Vogelhäuschen damit gedruckt.

"Es geht nicht darum, alles zu digitalisieren"

Auf den Schulfluren sitzen Schüler in Lernkapseln, blauen Sofas mit gebogenen Lehnen, die einen Teil des Schullärms filtern sollen. Neben den Armstützen sind Steckdosen angebracht, mit denen die Kinder ihre Smartphones aufladen können. "In der Pause war vor einiger Zeit das WLAN häufig überlastet, deshalb gibt es nun einen öffentlichen Zugang und einen, der nur für den Unterricht gedacht ist", sagt Schulleiter Rundu.

Niemand würde hier auf die Idee kommen, den Kindern ihre Handys wegzunehmen. "Anstatt Dinge zu verbieten, wollen wir den Schülern beibringen, wie man mit ihnen umgeht", sagt Rundu. Manchmal werde die Digitalisierung an estnischen Schulen von Außenstehenden falsch verstanden: "Es geht nicht darum, alles zu digitalisieren. Wir wollen den Kindern beibringen, wie sie Technik am besten für sich nutzen können." Natürlich gebe es auch an estnischen Schulen Frontalunterricht, Schreibhefte und Bücher.

Doch die Technik helfe den Schülern beim Lernen. "Die Kinder lieben das Smartboard, sie sehen viel besser, weil ich die Schrift größer ziehen kann. Außerdem kann ich viel mehr Unterrichtsmaterial verwenden, wie Grafiken oder kurze Videos. Das ist für die Schüler meist viel interessanter", sagt Lehrerin Leppmaa. In dem Klassenzimmer hängt noch immer eine große Schiefertafel, doch die benutze sie nicht mehr.

Das digitale Klassenbuch "ekool"

Die Digitalisierung kann den Kindern nicht nur beim Lernen helfen, der Unterricht wird durch technische Hilfsmittel auch effizienter. Seit 2002 nutzen fast alle Schulen in Estland das digitale Klassenbuch "ekool". Die Lehrer tragen dort ein, was sie in einer Unterrichtsstunde behandelt haben, welche Hausaufgaben es gibt, wer gefehlt hat. Die Eltern können die Daten ihrer Kinder einsehen und dem Lehrer Nachrichten schicken oder Entschuldigungen hochladen.

"Es erleichtert wirklich vieles", sagt Physik- und Mathelehrer Markus Reischl. Als er 1999 an die Schule kam, musste er auf jeder Doppelseite im Klassenbuch die Namen aller Schüler eintragen, das habe eine Ewigkeit gedauert. "Mit ekool brauche ich für alle Eintragungen maximal eine Stunde pro Woche." Zudem verbrauche er viel weniger Papier.

Reischl kommt aus dem bayerischen Landau, wenn er sich mit deutschen Kollegen über ekool unterhalte, stoße er vor allem auf Skepsis. "Der Datenschutz ist da sofort ein großes Thema", so Reischl. Dabei komme jeder Lehrer nur an bestimmte Daten heran. Er könne beispielsweise nicht sehen, welche Noten die Schüler in anderen Fächern haben. Außerdem werden die Schüler sofort benachrichtigt, wenn jemand auf ihr Profil zugreift.

"Wer an die Daten will, schafft es sowieso"

Die Daten liegen nicht auf den Servern der Schulen, sondern bei einer Firma, die ekool vertreibt. Schulleiter Rundu findet das kaum problematisch. "Wer unbedingt an die Daten herankommen will, schafft es so oder so", sagt Rundu. Der Vorteil von ekool überwiege.

"Das digitale Klassenbuch ist sehr wichtig und leicht für mich", sagt auch Lehrerin Leppmaa. Die Eltern fragten zwar manchmal nach, kontrolliert fühle sie sich jedoch nicht. Ihre Kollegin Kaja Reissaar fand vor allem die ersten Jahre schwierig. "Ich musste mich abends lange hinsetzen, den Unterricht eintragen, die Stunden anders planen", sagt die 59-Jährige. Mittlerweile erledige sie die Eintragungen aber während der Stunde oder in den Pausen. In die alten Zeiten wolle sie nicht zurück. Eines störe sie aber doch: "Manchmal erwarten die Eltern, dass ich gleich am selben Abend antworte, aber ich habe auch ein eigenes Leben." Da müssten die Eltern auch mal warten.

"Ich weiß genau, was meine Kinder in der Schule machen"

"Ekool gibt den Eltern mehr Einfluss", sagt auch Kristina Kallas. Sie ist Direktorin des Narva College und hat zwei Kinder. "Ich weiß genau, was meine Kinder in der Schule machen." Das erleichtere vieles. "Wenn du ein Kind fragst: 'Wie war die Schule?' Kommt meist nur: 'Gut'. Da ich aber weiß, was genau im Unterricht drankam, kann ich meine Kinder gezielt darauf ansprechen, da entsteht viel leichter ein Gespräch."

Sie findet es gut, dass ihre Kinder mit neuen Techniken lernen. "Es gehört mittlerweile zur estnischen Mentalität, dass man digitalisiert sein muss, sonst ist man nicht Estnisch", sagt Kallas lachend. Wenn sie sich entscheiden müssten, würden Schulen wohl eher Computer kaufen, als Geld für ein neues Dach auszugeben.

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