Frankreich ködert Schulschwänzer Allons enfants, es gibt Bargeld

Anti-Schwänzer-Schild in Berlin: Kreativ gegen das Massenphänomen Schulverweigerung
Foto: Z1004 Peer Grimm/ dpaEin Teil von Frankreichs Schülern hat seit dieser Woche einen neuen Anreiz, sich morgens aus dem Bett zu quälen. Mehrere Schulen loben jetzt Belohnungen aus, wenn Jugendliche nicht schwänzen. So verteilt eine Berufsschule in Marseille Gratis-Tickets für Fußballspiele der Ersten Liga; in einem Schulbezirk bei Paris gibt es Führerscheinprämien oder Zuschüsse zur Klassenfahrt. Elternverbände und die linke Opposition sind ziemlich entsetzt.
"Ich bedauere ein bisschen, dass es so weit kommen musste", sagt Direktor Pierre-Alain Glutron von der Berufsschule Frédéric-Mistral in Marseille. Aber dort fehle trotz verhängter Strafen regelmäßig ein Viertel der Schüler. "Und wenn die Schüler nicht kommen, sind wir gescheitert." Da sei sein Kollegium auf die Idee mit den Fußballkarten für den Erstliga-Club Olympique de Marseille gekommen. Denn eigentlich sei doch nur wichtig, dass die Schüler ihren Abschluss machten: "Wenn ihnen etwas Zuckerbrot dabei hilft, warum nicht?"
Im Schulbezirk Créteil südöstlich von Paris haben seit Montag gleich drei Berufsschulen ein ähnliches Belohnungssystem eingeführt. Dort gibt es keine Fußballtickets, sondern Bargeld. Bis zu 10.000 Euro kann eine Klasse am Jahresende bekommen, wenn ihre Schüler brav zum Unterricht gehen. Das Geld kann die Klasse dann für eine Abschlussfahrt verwenden oder unter den Schülern für den Erwerb des Führerscheins aufteilen.
"Unglaubliche Verschiebung der Werte"
Der Trick dabei ist wie in Marseille, dass die Belohnungen nicht einzelne Schüler, sondern die Klassen mit der niedrigsten Schulschwänzerrate erhalten. Das Kalkül: Die Klasse selber setzt Blaumacher unter Druck, die den Anwesenheitsschnitt versauen und damit Chancen auf den Jackpot oder die Fußballtickets verbauen. "Das ist ein gemeinsames Projekt", umschreibt es Laurent Petrynka vom Schulamt Créteil. "Die Reise oder den Führerschein bekommen entweder alle oder keiner."
Elternvertreter reagierten überrascht auf die Aktion mit Rückendeckung der konservativen Regierung. "Dass man so ein Problem mit Geld lösen will, ist schon eine ziemliche Katastrophe", sagt Jean-Jacques Hazan, Präsident des linken Elternverbands FCPE. Auch bei der konservativen Elternvereinigung Peep gibt es starke Vorbehalte: "Wir wollen nicht, dass Geld zum Anreiz für die Kinder wird", sagt ihr Präsident Philippe Vrand. "Sie kommen dann vielleicht in die Schule - aber werden sie auch arbeiten?"
Die oppositionellen Sozialisten verlangten, die Anreize umgehend zu verbieten. Es sei unmöglich, "Schüler finanziell dafür zu belohnen, die nichts machen, als sich normal zu verhalten". Das entspreche nicht den Werten Frankreichs. Die Zentrumspartei Modem sprach von einer "unglaublichen Verschiebung der Werte". Ihr Vorsitzender François Bayrou fürchtet, das könne auf alle Jugendlichen Auswirkungen haben. "Die Schüler werden sich sagen: 'Wenn ihr mir keine Kohle gebt, dann komm ich nicht.'"
Rund 300.000 Schulverweigerer in Deutschland
Bildungsminister Luc Chatel verteidigt das Projekt: Im "Krieg gegen das Schulschwänzen" müsse "alles versucht werden", sagt er. Natürlich dürfe dabei nicht der Eindruck entstehen, "dass die Schüler bezahlt werden". Und vorerst handele es sich um einzelne Tests, deren Wirkung untersucht werden. "Wir werden sehen, ob es funktioniert."
Ähnliche Anti-Schwänz-Initiativen laufen bereits in den USA und in Großbritannien. So versuchen US-Schulen verstärkt, ihre Schüler durch Geldprämien zu Höchstleistungen anzuspornen; zwei Schulen in Fairburn im Bundestaat Georgia bieten ihren schlechtesten Schülern sogar an, gegen Geld nachzusitzen. Derweil versucht die britische Regierung in einem Projekt, notorische Schulschwänzer mit Geldgeschenken ins Klassenzimmer zu locken. Ein anderes britisches Programm bedeutet dagegen mehr Peitsche als Zuckerbrot: Schulminister Ed Balls will Eltern zu Erziehungskursen verpflichten.
Auch in Deutschland gibt es seit Jahren Debatten, wie man gegen anhaltende Schulverweigerung vorgehen soll. Im September sagte der Berliner Erziehungswissenschaftler Karlheinz Thimm, dass es in Deutschland rund 300.000 Schulverweigerer gebe, also Schüler, die im Halbjahr mehr als zehn Tage unentschuldigt fehlen.
Um dem Trendsport Schulschwänzen beizukommen, greifen Behörden mitunter zu Bußgeldern gegen Eltern oder lassen Kinder mit dem Streifenwagen in die Schule fahren. Bei hartnäckigem Fernbleiben von Schülern erhalten Eltern sogar Freiheitsstrafen - oder Schüler Jugendarrest.
SMS an Eltern, Guten-Morgen-Weckruf beim Schüler
Bisweilen zeigen sich auch deutsche Politiker und Beamte von ihrer kreativen Seite, wenn es darum geht, Schulschwänzer zurück in den Unterricht zu locken. So forderte Stefanie Vogelsang (CDU), die gerade für den Wahlkreis Berlin-Neukölln in den Bundestag eingezogen ist, Eltern das Kindergeld zu entziehen, wenn ihre Sprösslinge sich vor der Schule drücken.
Im selben Hauptstadtbezirk eröffnete Ende August ein Internat für Schulschwänzer. "Wir wollen eine Art Salem für Arme werden", sagte Siegfried Dreusicke, Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerkes (EJF) im Interview mit SPIEGEL ONLINE. In Dortmund verschickten Schulen schon SMS an Eltern, wenn ihre Kinder morgens nicht auftauchten. Das Programm wurde allerdings mittlerweile eingestellt, unter anderem weil die Handynummern zu häufig wechselten.
In der nordrhein-westfälischen Stadt Oer-Erkenschwick wollte Jugendpfleger Michael Hess Problemfamilien mit Bonuskarten zur besseren Unterstützung und Fürsorge ihrer Kinder ermuntern: So sollten sie Stempel erhalten, wenn sie ihre Kinder pünktlich und mit einem ordentlichen Frühstück in die Schule schicken. Ist die Karte voll, wollte Hess das mit Sachgeschenken im Wert von rund 100 Euro belohnen. Das Projekt scheiterte allerdings am fehlenden Geld.
Im vergangenen Jahr forderte die Innenministerkonferenz, dass Geschäfte Spielkonsolen erst nachmittags ab 15 Uhr freischalten - zu groß sei sonst die Versuchung, lieber zu daddeln als zu büffeln. Und das Bundesfamilienministerium startete 2007 die Initiative "Die 2. Chance": Dabei betreuen Sozialarbeiter notorische Schulverweigerer intensiv und rufen sie zum Beispiel morgens an, wenn es Zeit zum Aufstehen ist.