Fremdsprachen für Grundschüler "Früh anfangen allein reicht nicht"

Englisch lernen: Ab wann ist es richtig, ab wann zu früh?
Foto: Roland_Scheidemann/ picture-alliance / dpa/dpawebSPIEGEL ONLINE: Baden-Württemberg war Vorreiter beim Fremdsprachenunterricht in der Grundschule. Seit acht Jahren lernen die Erstklässler dort Englisch oder Französisch. Die neue Landesregierung will das Tempo wieder drosseln und erst ab Klasse 3 starten. Was sagen Sie dazu?
Piske: Das wäre ein Rückschritt. Je früher Kinder Zugang zu einer Fremdsprache haben, desto aufgeschlossener sind sie gewöhnlich anderen Kulturen gegenüber. Den Fremdsprachenunterricht in den Klassen 1 und 2 wieder abzuschaffen, finde ich auch in Bezug auf Chancengleichheit bedenklich. Es wäre dann damit zu rechnen, dass vor allem bessergestellte Familien ihre Kinder auf Privatschulen schicken, an denen es weiterhin Fremdsprachenunterricht ab der ersten Klasse gibt. Das frühe Fremdsprachenlernen würde in Baden-Württemberg dann also wieder zu einem Angebot für einige, aber nicht wie derzeit für alle Kinder.
SPIEGEL ONLINE: An den öffentlichen Grundschulen werden bislang zwei Stunden Englisch oder Französisch pro Woche unterrichtet. Was bringt das?
Piske: In den ersten beiden Jahren tut sich beim Sprachverständnis auch bei nur zwei Wochenstunden sehr viel. Die Kinder können Beschreibungen und Erklärungen folgen und auch schon Geschichten verstehen. Doch weil der Schwerpunkt auf dem Hörverständnis liegt und sich das freie Sprechen deshalb nicht so schnell entwickelt, kann man leicht den Eindruck bekommen, dass der Fremdsprachenunterricht in der Grundschule nicht viel bringt. Da sind die Erwartungen oft zu hoch.
SPIEGEL ONLINE: Ein Expertenrat hat der Landesregierung empfohlen, erst in der dritten Klasse mit einer Fremdsprache zu beginnen . Besonders Kinder mit Migrationshintergrund seien überfordert und sollten zuerst Deutsch lernen.
Piske: Nach unseren bisherigen Erfahrungen fühlen sich gerade Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, im Fremdsprachenunterricht wohl. Denn sie fangen wie die anderen Kinder auch neu an, und ihre Leistungen sind nicht so sehr wie in anderen Fächern von ihren Deutschkenntnissen abhängig. Das kann sehr ermutigend sein.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben für eine EU-Studie in mehreren deutschen Städten die sprachlichen Fähigkeiten von Kindern getestet, die in deutsch-englisch bilinguale Kindergärten gingen. Einige dieser Kinder wachsen zu Hause mit einer anderen Sprache als Deutsch oder Englisch auf. Was kam bei der Studie heraus?
Piske: Die Kinder, die die mehrsprachige Situation von zu Hause kannten, machten in Englisch gute Fortschritte. Und sie schnitten auch in den Deutschtests mindestens so gut ab wie Kinder aus rein deutschsprachigen Familien. Das liegt daran, dass in den bilingualen Kindergärten darauf geachtet wird, dass auch das Deutsche nicht zu kurz kommt - und dass Kinder durch den frühen intensiven Kontakt zu mehreren Sprachen offenbar schnell ein hohes Sprachbewusstsein entwickeln...
SPIEGEL ONLINE: ...oder am oft privilegierten Leben in zweisprachigen Akademikerhaushalten. Lassen sich solche Ergebnisse auf eine durchschnittliche Grundschule mit zwei Stunden Englisch in der Woche übertragen?
Piske: Natürlich müssen diese ersten Ergebnisse noch mit Vorsicht interpretiert werden. Sie zeigen aber auf jeden Fall, dass es nicht automatisch zu Defiziten in Deutsch kommt, wenn eine andere Sprache mehr Platz bekommt. Wir haben auch bilinguale Kindergärten in einem schwierigen sozialen Umfeld untersucht, die zeigen, dass solche Einrichtungen keine Elite-Institutionen sein müssen. Und überall erzielten Migrantenkinder in den Deutschtests mindestens so gute Leistungen wie Kinder aus deutschsprachigen Familien.
SPIEGEL ONLINE: Wie kommen die Experten, die die Landesregierung zitiert, dann zu ihrer Einschätzung?
Piske: Sie haben festgestellt: Viele Kinder haben in Deutsch und Mathe Probleme. Dann hat man überlegt, wie man für diese Fächer Zeit gewinnen kann. Weil es das Vorurteil gibt, dass früher Fremdsprachenunterricht wenig bringt, hat man hier wohl am ehesten Möglichkeiten für einen Zeitgewinn gesehen. Aber bei den Fremdsprachen zu kürzen, ist der falsche Ansatz. Es sollte nicht darum gehen, bestimmte Fächer auf Kosten anderer auszubauen. Man sollte lieber in den Fächern, in denen es Schwierigkeiten gibt, der Frage nachgehen, wie der Unterricht gestaltet werden muss, damit er bei allen Schülern zu größeren Erfolgen führt.
SPIEGEL ONLINE: Woher haben Englischstunden für Sechsjährige so einen schlechten Ruf?
Piske: Viele Lehrer sind sprachlich unsicher und können ihren Schülern keinen Unterricht bieten, in dem sie sich schnell weiterentwickeln können. Als es mit dem frühen Fremdsprachenunterricht losging, wurden vor allem fachfremde Lehrkräfte eingesetzt, die die Sprache nicht studiert hatten. Auch heute werden immer noch rund drei Viertel der Englischstunden an den Grundschulen fachfremd unterrichtet.
SPIEGEL ONLINE: Wie sieht guter Englischunterricht aus?
Piske: Die Lehrer müssen die Sprache flüssig und authentisch beherrschen. Und sie müssen für Kinder anschauliche Situationen schaffen, zum Beispiel mit Hilfe von Bildern, Experimenten, Rollenspielen oder Handpuppen. Die Kinder sollten oft die Gelegenheit bekommen, selbst zu sprechen - über Themen, die sie interessieren. Und sie sollten früh an die englische Schrift herangeführt werden, damit sie sich an die Unterschiede zur deutschen Schrift gewöhnen.
SPIEGEL ONLINE: Ist es nicht sehr viel verlangt, Grundschülern zwei unterschiedliche Schriften lernen zu lassen?
Piske: Nein, denn in den weiterführenden Schulen sind die schriftlichen Fähigkeiten auch in der Fremdsprache plötzlich sehr wichtig. Der schlechte Ruf der frühen Englischstunden rührt auch daher, dass die Schüler, die aus der Grundschule kommen, oft nicht die Erwartungen der Lehrer erfüllen. Als man den Fremdsprachenunterricht an der Grundschule eingeführt hat, hat man häufig den Eindruck erweckt: Man fängt früh an, und alles passiert automatisch, denn Kinder saugen Sprachen auf wie ein Schwamm. Früh anzufangen allein, ist aber nicht genug.