Brandbrief in Saarbrücken Eine Schule in Angst

Gemeinschaftsschule Bruchwiese in Saarbrücken
Foto: action press"Wichser" und "Hurensohn" werden die Lehrer genannt, "Cracknutte" die Lehrerinnen: An der Gemeinschaftsschule Saarbrücken-Bruchwiese herrscht ein Klima der Angst, der Aggressivität und Respektlosigkeit gegenüber den Lehrkräften.
"Mittlerweile müssen wir bei unseren pädagogischen Maßnahmen immer unseren Eigenschutz im Auge behalten, da wir im Umfeld dieser hoch gewaltbereiten Jugendlichen auch privat leben", heißt es in einem Brandbrief, den das Kollegium an das Bildungsministerium geschickt hat.
Der Brief, über den die "Saarbrücker Zeitung" zuerst berichtete , liegt SPIEGEL ONLINE vor. (Sie können den vollständigen Brief hier lesen.) Er enthält neben den Beschreibungen der Gewalt durch Schüler gegen Lehrer auch konkrete Forderungen. Denn: Die Schule wolle nicht frustriert aufgeben, heißt es, "da uns die Schüler am Herzen liegen".
Abgeschickt wurde der Brief bereits im Juni - mit der Bitte um "eine angemessene Reaktion bis September". Eine solche hat die Schule vom saarländischen Bildungsministerium bislang wohl nicht erhalten.
Alle bildungspolitischen Versäumnisse treffen aufeinander
SPIEGEL ONLINE hat die Forderungen der Schule geprüft, beim Ministerium nachgefragt, was bereits angegangen wurde, und eine Gewerkschafterin und Lehrerin der Schule um eine Bewertung der Maßnahmen gebeten.
Ein Blick auf die Rahmenbedingungen der Schule zeigt: Die Probleme an der Gemeinschaftsschule Saarbrücken-Bruchwiese sind keine Ausnahme, sondern hier treffen die aktuellen bildungspolitischen Herausforderungen und Versäumnisse der Bundesrepublik aufeinander.
Die Schule gilt als sogenannte Brennpunktschule. Hier werden viele Schüler mit schwierigen Ausgangsbedingungen unterrichtet: Kinder aus bildungsfernen Familien, Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen, Kinder mit Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten, Kinder mit Behinderungen, Kinder mit Fluchthintergrund. Insgesamt liege der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund bei etwa 86 Prozent, so die Schule in dem Brandbrief.
Ein paar Lehrerstellen mehr
Und wie hat das Bildungsministerium reagiert? "Verbesserungen haben wir nicht bemerkt", heißt es aus der Schule. Gutgemeinte Worte habe es gegeben und ein paar mehr Lehrerstellen, aber das Grundproblem bleibe: "Es darf nicht zu solchen Ballungen kommen", sagt Karen Claassen, Vorsitzende des Verbands Reale Bildung (VRB) im Saarland und Lehrerin an der Gemeinschaftsschule. "Das ist ein politisches und gesellschaftliches Problem, nicht Sache der Schule."

Die Lehrer wissen offenbar schon lange nicht mehr, um wen sie sich zuerst kümmern sollen: Um die 67 der 326 Schülerinnen und Schüler, die laut dem Bildungsministerium als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind und erst mal Deutsch lernen und ankommen müssen? Um die 14 Prozent der Schüler, die als Inklusionskinder einen besonderen Förderbedarf haben?
Unter der Hand ist aus der Schule zu erfahren, dass die Probleme vor zwei Jahren begannen, als die Inklusionsverordnung in Kraft getreten sei. So richtig möchte sich aber derzeit niemand äußern, trotz Dutzender Anfragen bei Schülern, Eltern und Lehrern.
Unklarheit über die Ursachen
Das SPD-geführte Bildungsministerium sieht das Problem hingegen besonders bei der Verteilung der Geflüchteten. Dem Ballungsgebiet seien zu viele Flüchtlingskinder zugewiesen worden.
Tatsächlich zeigen Beispiele auch aus anderen Bundesländern, dass die neuen Schüler nicht gleichmäßig auf die Stadtteile und Schulformen verteilt werden: Gymnasiasten in gut situierten Stadtteilen bleiben zumeist unter sich, Schulen in Problemvierteln bekommen durch die neuen Schüler noch mehr Aufgaben zugeteilt, als sie ohnehin schon zu bewältigen haben.
Bildungspolitiker Alexander Zeyer vom saarländischen Koalitionspartner CDU kritisiert, dass die Verteilung von Schülern mit besonderem Förderbedarf generell nicht gut laufe. "Da liegt ein Fehler im System".
Die meisten Forderungen der Schule betreffen Aspekte der Inklusion und den Mangel an Ressourcen. Die Lehrer wünschen sich kleinere Klassen, mehr Lehrkräfte, zusätzliche Förderstunden und Sozialarbeiter.

Sie sind aggressiv, lernen nicht, haben null Respekt: Lehrer Michael Wegmann konnte seine Schülerinnen lange nicht erreichen. Dann traf er einen Sozialarbeiter aus dem Ruhrgebiet, der den entscheidenden Tipp gab.
Das Ministerium bestätigt, es habe weitere 60 Stunden zur Sprachförderung bewilligt und zusätzlich 109 Lehrerwochenstunden. Das entspricht vier Lehrerstellen. Im kommenden Jahr solle die Schule außerdem in einem Pilotprojekt mit neun weiteren Brennpunktschulen entlastet werden, sagt Ministeriumssprecherin Marija Herceg. Es solle zusätzliche Ressourcen geben, um etwa die Klassengröße zu reduzieren oder eine zweite Lehrkraft im Unterricht einzusetzen.
Verbandsvorsitzende Claassen sagt, über die Umsetzung sei noch nicht gesprochen worden. Klar sei lediglich, es gebe für ein Jahr 40.000 zusätzliche Euro. Aufbauen könnte man bei einer solch kurzen Laufzeit aber nichts.
Die Schule will ein Vetorecht
Dabei hat die Schule sehr konkrete Forderungen, die auch ohne finanzielle Ressourcen möglich wären. Bürokratieabbau etwa oder dass die Expertise der Lehrer wieder zähle, wenn diese sich dafür aussprechen, dass ein Schüler die Schule verlassen und auf eine spezielle Förderschule gehen soll.
Eine zentrale Forderung der Schule ist dabei ein Vetorecht bei den Neuzugängen: Zurzeit würden viele Schüler auf die Gemeinschaftsschule abgeschoben, die anderswo gescheitert sind. Ein Blick auf die siebte Klasse zeigt es im Brandbrief deutlich: Binnen einem halben Jahr seien vier Schüler auf die Schule gekommen, die anderswo kurz vor dem Rausschmiss standen oder strafversetzt wurden. Ein gesundes Klassengefüge sei so nicht möglich.
Die Zustände an der Gemeinschaftsschule Bruchwiese erinnern an die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln: Vor zehn Jahren verfassten Lehrer dort einen Brandbrief an den Berliner Senat. Sie schrieben von Schülern, die Türen eintraten, ihre Lehrer mit Gegenständen bewarfen und Knallkörper zündeten, und sie forderten die Auflösung der Hauptschule.
Danach diskutierte die gesamte Republik, und Rütli wurde zum Symbol der gescheiterten Integration von Migranten oder, genereller, der Verwahrlosung der Institution Hauptschule. Heute heißt die Schule Campus Rütli und soll anderen Schulen ein Vorbild sein.
Eine gute Nachricht gibt es inoffiziell bereits aus Saarbrücken: Viele Schüler hätten erst durch den Brandbrief erfahren, dass es Lehrer gebe, die Angst vor ihnen hätten - und seien darüber schockiert. Hier beginne in Gesprächen zwischen Lehrern und Schülern nun zumindest eine Aufarbeitung.