Lernen mit Zeitzeugen Schüler überschätzen ihr Geschichtswissen

Zeitzeugen im Klassenzimmer machen den Unterricht lebendig - sorgen aber nicht unbedingt dafür, dass Schüler mehr Ahnung von Geschichte haben, zeigt eine Studie. Es komme ganz auf die Lehrer an.
Schulunterricht (Symbolfoto)

Schulunterricht (Symbolfoto)

Foto: Armin Weigel/ dpa

Wenn Lehrer Zeitzeugen in den Unterricht einladen, haben Schüler in der Regel zwar mehr Spaß am Unterricht - neigen aber auch öfter zur Selbstüberschätzung, was ihr Geschichtsverständnis betrifft. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Universität Tübingen zum Thema "Oral History" (erzählte Geschichte).

Schüler, die direkt mit Zeitzeugen sprechen können, werden demnach davon beeinflusst, wie die Person auftritt und ihre Erfahrungen schildert: Sie bewerten ihren Lernerfolg dadurch höher als Schüler, die Erfahrungsberichte in Text- oder Videoform bearbeitet haben. Die Forscher sprechen dabei von der "Aura der Authentizität".

Tatsächlich schnitten Schüler mit der Zeitzeugen-Begegnung in Tests zu "Grundlagen der historischen Erkenntnis" schlechter ab als Schüler in Vergleichsgruppen, heißt es von den Autoren der Studie. Sie hätten außerdem nicht so gut verstanden, wie wichtig es sei, mit Erzählungen über die Vergangenheit kritisch umzugehen, wie Schüler, die sich Zeitzeugen in Text und Video näherten.

Trotz dieser Ergebnisse betonten die Forscher jedoch: Weil die Auseinandersetzung mit Zeitzeugen so motivierend für Schüler sei, sollten Lehrer nicht darauf verzichten. Aber: Sie müssten unbedingt für eine intensive Vor- und Nachbereitung sorgen, sagte die Autorin Christine Bertram.

Eines stellte die Untersuchung eindeutig fest: Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe schnitten alle Klassen, die in verschiedener Form mit Zeitzeugen arbeiteten, besser ab. Sie zeigten eine höhere historische Kompetenz und verfügten über mehr Faktenwissen.

Auseinandersetzung mit Zeitzeugen live, in Video- oder Textform

Für die Studie hatten die Wissenschaftler 900 Schüler aus 30 Klassen zum Thema "Friedliche Revolution in der DDR" beobachtet. Ziel der Untersuchung war es zu zeigen, ob und wie Schüler durch die Auseinandersetzung mit Zeitzeugen an Geschichtskompetenz gewinnen.

Vier Menschen, die den Mauerfall und die Wende mit Anfang 20 als aktive Oppositionelle erlebt hatten, berichteten über ihre politischen Aktivitäten, die Demonstrationen gegen das damalige Regime und die Kontrolle und Unterdrückung durch das sozialistische System.

Ein Teil der Klassen arbeitete dazu mit den Zeitzeugen, die persönlich am Unterricht teilnahmen. Ein zweiter Teil nutzte eine Videoaufzeichnung mit denselben Personen, und eine weitere Gruppe setzte sich mit einem schriftlichen Interview der Zeitzeugen auseinander. Zusätzlich gab es eine Kontrollgruppe von fünf Klassen, die Geschichtsunterricht ohne Zeitzeugen zu einem anderen Thema erhielten.

Zeitzeugen-Schüler zeigten besseres Geschichtsverständnis als Kontrollgruppe

Die Forscher erhoben unmittelbar vor und nach der Unterrichtseinheit, welche Kenntnisse die Schüler zum Thema DDR hatten, wie sich ihr Geschichtsverständnis entwickelte und wie sie den Unterricht einschätzten. Außerdem wurden die Schüler zwei bis drei Monate später noch einmal dazu befragt.

"Dass die Zeitzeugen die Vergangenheit leibhaftig miterlebt haben, macht sie so glaubwürdig, dass es den Schülerinnen und Schülern, die sie live erleben, schwerer fällt, die für einen kritischen Umgang notwendige Distanz zu ihren Erzählungen aufzubauen", sagte Christiane Bertram, die Erstautorin der Studie. Die Schüler seien womöglich auch so beeindruckt von den Personen, dass sie ihren eigenen Lernerfolg überschätzten.

mja
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