Großbritannien Kommunen wenden Terrorgesetze gegen spielende Kinder an

Spielende, lärmende Kinder vor der Tür? Einfach bei der Stadt melden - die legt ein paar Wanzen aus. In Großbritannien nutzen Kommunen Anti-Terror-Gesetze, um Hunde beim Wasserlassen, illegale Pizzaverkäufer oder eben spielende Kinder zu überwachen.
Kinder spielen Fußball auf der Straße (hier in London): Mit Wanzen abgehört, weil ein Anwohner sich beschwerte

Kinder spielen Fußball auf der Straße (hier in London): Mit Wanzen abgehört, weil ein Anwohner sich beschwerte

Foto: Getty Images

Früher kam der Opa mit dem Rohrstock aus der Tür, weil ein Ball gegen sein Garagentor gedonnert war, schimpfte laut - und hatte dann Ruhe vor den spielenden Fußball-Kindern. Oder er schoss ihren Ball einfach so weit weg, wie er konnte. Oder er nahm ihn mit.

Zumindest im nordenglischen Derby sieht die Welt jetzt anders aus, berichtet die britische Tageszeitung "Telegraph" unter Berufung auf eine Umfrage der Menschrechtsorganisation Liberty. In Derby haben sich demnach grantige Anwohner über Kinder beschwert, die vor ihrem Haus auf der Straße spielten, und zwar ihrer Meinung nach zu laut. Bei der Stadt zuckte man nicht etwa mit den Achseln oder gab wohlmeinende Ratschläge - sondern baute eine Überwachungsanlage auf, welche die kindlichen Aktivitäten aufzeichnen sollte.

Kameras, Wanzen und Beschatter

Das geht, weil es in Großbritannien seit 2000 den Regulation of Investigatory Powers Act (Ripa) gibt. Das Anti-Terror-Gesetz räumt seit 2003 auch den kommunalen Behörden weitreichende Rechte ein, Menschen und Orte zu überwachen - mit Kameras, Wanzen, Beschattern. Eigentlich natürlich nur zur Terrorabwehr, um Anschläge zu verhindern und potentiellen Terroristen auf die Schliche zu kommen. Als Rundum-Sorglos-Gesetz für die umfassende Alltagsüberwachung aller Bürger war das Gesetz nicht gedacht.

Aber genauso wenden es viele Kommunen nun an, sagt Liberty. Die Organisation hatte eine Umfrage unter den 474 Kommunen des Landes gestartet, 115 antworteten. 89 von ihnen bestätigten, dass sie auf der Grundlage des Gesetzes aktiv geworden seien. 82 von ihnen schickten auch Zahlen: Insgesamt 867 Mal sei seit Anfang 2008 bis August eine Ripa-Ermittlung gestartet worden.

Es wird gefilmt und überprüft, wie und an welcher Stelle Hunde Wasser lassen, ob jemand illegal Pizza verkauft, ob Graffiti-Kids an illegaler Stelle sprühen. Oder um Autofahrer zu überführen, die sich den blauen Aufkleber für Behinderte zu Unrecht ans Auto kleben. Liberty-Chefin Shami Chakrabarti ist erbost: "Die Kommunen erweisen sich einen Bärendienst, indem sie Umweltverschmutzer überwachen, statt Terroristen zu verfolgen", sagte sie dem "Telegraph".

Sie überwachen Tierärzte, Schlosser und spielende Kinder

Die Zeitung veröffentlichte auch eine lange Liste von kuriosen Überwachungsaktionen, die auf der Grundlage des Anti-Terror-Gesetzes gestartet wurden. Ein kleiner Auszug:

  • In Easington begann die Stadt, den Garten eines Anwohners zu überwachen, weil sich seine Nachbarn über Lärm beschwert hatten.
  • In Newcastle überwachte die Stadtverwaltung die Praxis eines Tierarztes, weil Nachbarn über bellende Hunde klagten.
  • In Durham holte die Stadt die Genehmigung ein, Privatpersonen zu überwachen, die Dinge auf dem Flohmarkt verkauften, um Warenfälschern auf die Spur zu kommen.
  • Die Stadtverwaltung von Westminster (London) überwachte einen Schlosser, weil er des Betrugs bezichtigt worden war.
  • Der Torbay City Council las die E-Mails eines Angestellten mit, weil er beschuldigt wurde, "verdächtiges Material" verschickt zu haben. Einem zweiten Angestellten wurde hinterherspioniert, weil er angeblich einen Wagen der Stadtverwaltung für Privatzwecke genutzt hatte.
  • In Canterbury wurde ein Ermittler auf Privatpersonen angesetzt, die im Verdacht standen, illegal mit Pizza zu handeln.

Am fleißigsten waren die Schnüffler laut Umfrage im nordenglischen Durham: 100 Mal starteten die Behörden dort eine Überwachungsaktion. Zweiter wurde Newcastle mit 82 Untersuchungen, dritter Middlesbrough mit 70.

Der Ripa erlaubt es den Behörden, Telefone zu überwachen, E-Mails mitzulesen, mit den Geheimdiensten zusammenzuarbeiten und sich Zugang zu verschlüsselten und passwortgeschützten Informationen zu verschaffen.

Laut Gesetz dürfen die Behörden aktiv werden, um die nationale Sicherheit zu schützen, Verbrechen vorzubeugen und aufzudecken, die öffentliche Sicherheit, Ordnung und Gesundheit aufrechtzuerhalten - oder um das wirtschaftliche Wohl Großbritanniens zu schützen.

An spielende Kinder und bellende Hunde dürfte der damalige Innenminister David Blunkett nicht gedacht haben, als er das Gesetz 2003 unterschrieb.

maf

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