Geschichtsprojekt von Schülern in Halle "Wir sind die neuen Zeitzeugen"

Kim, Nico und Paul während der Gedenkveranstaltung: "Es war, als hätte man neue Freunde gefunden."
Foto: Swantje Unterberg / SPIEGEL ONLINEPaul spricht mir ruhiger leiser Stimme gegen den dröhnenden Motor eines Kranlasters an. Der 16-Jährige will mit Schülern seiner Geschichtsgruppe vor der Synagoge in Halle der Opfer des Anschlags vom 9. Oktober gedenken. Doch so richtig andächtig wird die Stimmung bei den Hintergrundgeräuschen nicht.
Neun Tage nachdem der Rechtsextremist Stephan Balliet nach dem vergeblichen Versuch, in die Synagoge einzudringen, zwei Menschen getötet hat, herrscht vor dem jüdischen Gotteshaus noch immer Ausnahmezustand. Die Polizei lädt einen Container ab, in dem die Beamten künftig Posten beziehen können. Immer wieder kommen Passanten vorbei, die frische Blumen auf das bereits welkende Blütenmeer legen.
Am Rande der Szenerie liest Paul aus einem Tagebuch vor. Vor einem Jahr, rezitiert er, "feierten wir mit der jüdischen Gemeinde zusammen den Schabbat". Das gemeinsame Beten, Essen und Singen habe die Schüler berührt, berichtet er. "Es war, als hätte man neue Freunde gefunden."
Fünf Tage in Auschwitz
Der Besuch der Synagoge war Teil einer vor eineinhalb Jahren begonnen "Spurensuche" von Schülern der Gesamtschule Ulrich von Hutten und Teilnehmern des Projekts Stabil, das sich vor allem an Schulabbrecher richtet. Gemeinsam verfolgten sie die Geschichte deportierter Familien aus Halle, etwa von Kurt Just, reisten dafür im vergangenen Herbst selbst für fünf Tage nach Auschwitz - und hielten ihre Erfahrungen fest.

Schülerprojekt in Halle: "Tagebuch der Gefühle"
"Die Fahrt dauert etwas lang, aber wenn man überlegt, dass Kurt Just zehn Tage gebraucht hat, um hier anzukommen, ohne Essen, ohne Hoffnung, habe ich ein Drücken im Magen", erzählt ein Schüler in dem Erinnerungsband, der unter dem Titel "Tagebuch der Gefühle" seit August öffentlich ist.
Die Schüler verbinden in ihren Erzählungen Fakten mit Emotionen, schildern ihre Spurensuche und vermitteln dabei gleichzeitig Geschichte - in ihrer ganz eigenen Sprache.
Für sie war der Nationalsozialismus "krass", sie schreiben mit vielen Ausrufezeichen und einer von ihnen sieht die Mitglieder des SS-Truppen wegen ihrer "ekelhaften" Taten nicht als "Menschen, sondern als Hurensöhne, ganz ehrlich!"
Das greift oft zu kurz, wirkt mitunter naiv und geht nicht als seriöses Geschichtsbuch durch. Doch es ist die Lebens- und Gefühlswelt von Jugendlichen - und sie werden dadurch erreicht.
"Der Anschlag hat gezeigt, was passiert,wenn es zu wenig Geschichtsbildung gibt ", sagt Projektleiter Andreas Dose, seit 20 Jahren in der Geschichtsarbeit mit Jugendlichen aktiv und pädagogischer Mitarbeiter bei der Stiftung, die sich um die Schulabbrecher kümmert. In einer Hassrede vor dem Anschlag leugnete der mutmaßliche Täter Balliet den Holocaust, bevor er sich die Helmkamera aufsetzte und losfuhr.
Empathie macht schlau
Die Schüler waren von der Tat geschockt, erzählen sie vor dem Gedenken an der Synagoge, die sie vor einem Jahr so gastfreundlich zum Shabbat-Mahl empfangen habe. "Es berührt einen schon mehr, wenn man selbst da war und die Leute getroffen hat", sagt die 15-jährige Kira.
Ob Schulabbrecher oder Regelschüler, die Jugendlichen sagen unisono, in der Schule hätten sie nicht genug über die Geschichte gelernt. "Die Schule vermittelt nur Fakten", sagt Kira. In Auschwitz habe sie die Geschichte gefühlt, das sei für das Verständnis wichtig.
Dass Empathie die Geschichte nachvollziehbar macht, ist aus der Bildungsarbeit in KZ-Gedenkstätten bekannt. Der Elftklässler Paul wünscht sich, dass ein Besuch in Auschwitz für Schüler verbindlich ist.
Durch die Tat von Halle fühlt er sich von der Geschichte eingeholt. "Jetzt nicht wie im Nationalsozialismus. Aber doch in einem gefährlichen Umfang", sagt Paul.
"Jetzt erst recht"
Der Projektgruppe habe der Anschlag allerdings noch mal einen Schub gegeben. "Unsere Arbeit war vorher schon wichtig", sagt Paul. In diesem Schuljahr seien sie schon durch elf Schulklassen getingelt und hätten aus ihrem Tagebuch gelesen. Die Schüler sagen in einer Selbstdarstellung: "Wir sind die neuen Zeitzeugen - für andere Schüler und Schülerinnen." Sie schafften es, die Klassen damit zu berühren, sagt Paul. Nun sei die Stimmung: "Jetzt erst recht."
Vor der Synagoge ist der Polizeicontainer endlich abgeladen, das Dröhnen des Motors stirbt während der letzten Worte auf der Gedenkveranstaltung. "Wir tragen für das, was geschehen ist, keine Verantwortung und wir können das Geschehene nicht mehr ändern, auch wenn wir es wollten", sagt die 18-jährige Projektteilnehmerin Kim in die plötzliche Stille hinein. Sie zitiert den letzten Absatz des Tagebuchs über die Spurensuche zum Holocaust. Er endet mit dem Aufruf, niemals zu vergessen.
Dabei hat Kim selbst gerade erst mit dem Erinnern angefangen. Sie ist neu bei dem Projekt, bisher war ihr Geschichte egal. Jetzt, sagt sie, will sie dafür kämpfen, dass das nicht noch mal passiert.
Die wichtigsten links zum Attentat in Halle:
- Hetze, Pöbeleien, Übergriffe: Der neue alte Hass gegen Juden
- Der Attentäter von Halle: Die Spuren des Stephan Balliet
- Chronologie des Attentats: Hundert Minuten Terror
- Nach Attentat in Halle: Kann man Radikalisierung im Internet verhindern?