Heimwehtelefon für Schüler "Hallo Mama, ich wollte kurz deine Stimme hören!"

An den ersten Schultagen vermissen Erstklässler häufig ihre Eltern. Eine Berliner Schule schafft mit einem Heimwehtelefon Abhilfe. Danielle Grafs Tochter hat zu Hause angerufen - was hat's gebracht?
"Nur mal kurz Mamas Stimme hören"

"Nur mal kurz Mamas Stimme hören"

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Zur Person
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Danielle Graf ist Mutter einer siebenjährigen Tochter und eines vierjährigen Sohnes und lebt eher ländlich im Speckgürtel Berlins. Zusammen mit Katja Seide schreibt sie den Ratgeber-Blog "Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn" .

SPIEGEL ONLINE: Was ist das Heimwehtelefon?

Graf: Das ist ein Festnetztelefon, das in unserer Schule im Flur an der Wand hängt und jederzeit jedem Schüler zur Verfügung steht. Hat ein Kind Sehnsucht nach seinen Eltern, darf es sie anrufen, auch mehrmals am Tag. Das geht natürlich nur, wenn der Job der Eltern das zulässt - das muss dann zu Hause mit dem Kind besprochen werden. Die meisten Arbeitgeber lassen das aber zu.

SPIEGEL ONLINE: Wie oft nutzen die Schüler das Telefon?

Graf: Am Anfang des Schuljahres rufen die Erstklässler etwa einmal am Tag bei ihren Eltern an. Einfach, um ihre Stimme zu hören oder kurz zu besprechen, wie lange es noch dauert, bis sie abgeholt werden. Sobald sie sich an den Rhythmus der Schule gewöhnt haben, werden die Anrufe automatisch weniger.

Meine Tochter geht seit Montag zur Schule, ist also eine ganz, ganz frische Erstklässlerin. An den ersten drei Tagen rief sie mich jeweils einmal an. Sie sagte: "Hallo Mama, ich wollte nur mal kurz deine Stimme hören!" Ich habe sie meist gefragt, was es zum Mittagessen gibt oder was sie gelernt hat, und dann war das Gespräch auch schon vorbei. Seit Donnerstag ruft sie nicht mehr an.

SPIEGEL ONLINE: Gibt es bei Ihnen an der Schule keine Eingewöhnung?

Graf: Nein. An Schulen mit einer Eingewöhnung ist das Heimwehtelefon sicherlich nicht nötig.

SPIEGEL ONLINE: Fördert das Telefon nicht sogar das Heimweh der Kinder?

Graf: Kinder, die neu in eine Schule kommen, vermissen ihre Eltern. Daran ist nicht zu rütteln - auch wenn das Gefühl sicher unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Das hört schlagartig auf, wenn neue Freunde gefunden sind, aber bis dahin gibt es in all dem Wirrwarr die Sehnsucht nach der Stimme eines Vertrauten. Das ist ganz normal. Ich kann nicht beobachten, dass das Telefon diese Sehnsucht verstärkt.

SPIEGEL ONLINE: Auch Eltern fällt es ja nicht immer leicht, loszulassen: Wen beruhigt das Heimwehtelefon denn mehr, Sie oder Ihre Tochter?

Graf: Mich beruhigt es eher, wenn sie nicht anruft. Dann weiß ich nämlich, dass sie so viel Spaß hat, dass sie mich glatt vergisst. Das finde ich schön. Und die Kinder beruhigt schon die Sicherheit, jederzeit anrufen zu können.

SPIEGEL ONLINE: Aber so ein Telefon hat auch was von Überbehütung.

Graf: Geht man von der Bindungstheorie aus, ist der Wunsch der Kinder, mit uns zu sprechen, ja total verständlich. Wenn alles neu und ungewohnt und anstrengend ist, dann wird das Bindungsbedürfnis im Inneren des Kindes aktiviert. In so einem Moment würde ein Baby anfangen zu weinen, um auf den Arm genommen zu werden. Und ein Kleinkind würde auf dem Spielplatz zu seinen Eltern rennen, sie kurz umarmen und dann wieder wegflitzen.

Rufen die kleinen Schulkinder also ihre Mama oder ihren Papa an, ist das nichts anderes, als kurz bei einem geliebten Menschen Kraft zu tanken, um dann eben wieder die neuen Anforderungen in Angriff nehmen zu können. Ganz sicher ginge es einem Kind auch ohne Heimwehtelefon okay. Aber wir Erwachsenen simsen uns doch auch, wenn wir Sehnsucht nacheinander haben oder wenn wir einen stressigen Tag im Büro aushalten müssen.

SPIEGEL ONLINE: Andererseits ist es vielleicht auch ganz gut, wenn Eltern während der Schulzeit mal vier Stunden Ruhe vor ihren Kindern haben.

Graf: Bei nur vier Stunden Schule macht das Heimwehtelefon tatsächlich wenig Sinn, denke ich. Aber meine Tochter geht - wie viele Kinder in Berlin - von 8 bis 16 Uhr zur Schule. Das ist ein ganzer Arbeitstag! Sie müssen sich an neue Abläufe gewöhnen, an die Lautstärke, die Lehrer, die anderen Kinder. Sie müssen Freundschaften knüpfen und Schulstoff aufnehmen. Alles ist neu und anstrengend. Ich denke, da darf schon mal Sehnsucht nach den Eltern aufkommen. Und wenn man die so leicht wie mit einem Anruf ernst nehmen und lindern kann, warum nicht? Ich fände es gut, wenn das Heimwehtelefon Schule macht.

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