Überbehütete Kinder Ich bin ein Helikopter-Papa

Bildungsjournalist Füller: Eingeklemmt zwischen stinknormaler Penne und Reformschule
Foto: Reiner ZensenLetzthin war es wieder soweit. Eine Mama sprengte einen Elternabend. Zwei Lehrerinnen hatten sich ein gutes Projekt für die 6c ausgedacht. Die Kinder sollten Antike nicht aus dem Geschichtsbuch lernen, sondern direkt im Alten Museum. Sie sollten griechische Skulpturen und Vasen sehen, studieren und darüber ein kleines Buch verfassen. Die Lehrerinnen hatten das Kollegium überzeugt, dafür den Stundenplan für eine Woche auszusetzen. Lernen, von der Schule organisiert, kann so toll sein!
Könnte so toll sein.
Denn niemand hatte die immerbesorgte Mutti auf dem Zettel. Ihr Einwand: "In diesem Museum sind die griechischen Götter alle nackt. Ich möchte meine Elfjährige nicht mit Quasi-Pornografie konfrontieren." Den Besuch alter Steinstatuen im Museum wegen Porno-Verdacht absagen? Darauf können im Zeitalter von YouPorn nur sehr verwirrte Eltern kommen.
An diese obsessiv observierende Spezies denkt der Gymnasialdirektor Josef Kraus wahrscheinlich, wenn er im aktuellen SPIEGEL den Drang von Eltern beklagt, ihre Kinder fürsorglich zu belagern. Er nennt sie, wie auch sein neues Buch zum Thema, nach amerikanischem Vorbild "Helikopter-Eltern". Und Kraus hat teilweise recht. Ich wäre, nach langjähriger Elternabend-Folter der Letzte, der überbetüttelnde Muttis und karrieregeile Vatis nicht allzu gerne auf die Couch schicken würde. Aber Kraus setzt eben auch auf extreme Beispiele - etwa auf die Mutter, die wie eine Unfallärztin vor dem Pieper wartet, dass ein Notruf der Tochter eingeht, um ihr eine neue Wasserflasche in die Schule zu fahren. In dieser Heftigkeit ist das sicher ein Einzelfall. Aber es gibt andere Fälle, und das sind viele.
Der 14-jährige Pierre etwa hatte sich in einem hessischen Gymnasium ein halbes Jahr lang auf eine Drei in Deutsch vorgeschuftet. Dann wechselte der Rektor für die feinfühlige Lehrerin einen Grobian von Referendar ein. Der schert sich nicht um Pierres kleinen Erfolg, gibt dem Jungen zwei überstrenge Fünfen und prüft ihn so beinahe aus der 10. Klasse. Die Eltern sind an staatlichen Schulen gezwungen, tatenlos zuzuschauen. Das ist klassisches Gymnasium in Deutschland.
"Wer, wenn nicht ich? Ich bin der Erziehungsberechtigte"
Leider erfuhr ich unlängst auch: In Reformschulen läuft es oft nicht unbedingt besser. Mein Sohn brach eine Lerneinheit in Deutsch ab, und ich fragte mich wochenlang: "Darf ich mich erkundigen, was er nicht lernen mag? Wer, wenn nicht ich? Ich bin der Erziehungsberechtigte!" Also lief ich mit meinem Sohn zur Schule. Wir trafen auf eine Deutschlehrerin im Mitleidsmodus, die ihn gütig ansah und zu ihm sagte: "Aber klar, diese Deutschlektion musst du nicht machen, die ist wirklich unbequem, die können wir doch schieben!"
Da stand ich, eingeklemmt zwischen stinknormaler Penne und Reformschule. Die Lehrer kümmern sich entweder stur um ihren staatlichen Plan. Oder um ihre reformpädagogische Ideologie vom Kind, das alles selbst lernen will.
Mein zweiter Sohn ist jetzt Siebtklässler, und ich musste ihn nicht am ersten Tag am Händchen in die neue Schule führen. Seine SMS, "Papi, just arrived in Fort Knox!", freute mich trotzdem. Und ich werde selbstverständlich die Lehrer nicht anrufen, die eine Klassenreise in ein sommerliches Zeltlager organisierten, auf das ein schwerer Hagelschauer niederging.
Anekdoten aus dem normalen Schulwahnsinn
Aber ich warte auch nicht tatenlos, bis vielleicht das Radio von einer abgesoffenen Klassenzeltstadt berichtet. Man kann als Vater und eingetragener Kontaktpartner ein "Alles-OK" per SMS nach einem solchen Unwetter erwarten.
Das alles sind keine Anekdoten eines Hypernervösen, sondern der ganz normale Schulwahnsinn. Nach dem Pisa-Schock 2001 bauten die Kultusminister die deutsche Schullandschaft um. Ergebnis: Heute haben wir statt vier weiterführender Schultypen sagenhafte 14. Die Begriffsverwirrung ist perfekt, die deutsche Schule trägt den Namen Babylon.
In der Schule ist der Ausnahmezustand zum Normalfall geworden, und den nehmen Eltern nicht mehr wortlos hin. In Umfragen halten zwei Drittel Schule für ein veraltetes System, neun von zehn Eltern lehnen den Bildungsföderalismus rundweg ab. Mit anderen Worten: Das Vertrauen ist bei vielen Eltern restlos zerstört.
Die Nervosität der Mittelschicht ist verständlich. Es sind Bürger, die wissen, dass der Status von Beruf und Bankkonto vergänglich ist. Was für sie zählt, ist der klassische Wert Bildung. Diese Bildungsbürger hat der Staat stets unterstützt, ihnen hat er mit dem Gymnasium eine eigene, exklusive Lehranstalt errichtet. Darauf war seit dem 19. Jahrhundert Verlass.
Heute können sich Eltern auf gar nichts mehr verlassen. Der Staat hat mit der sinnfreien Einführung des Turboabiturs die Axt an die Schule des Bürgertums gelegt, das Gymnasium ist klinisch tot. Auch deshalb steigen die Ausgaben für Nachhilfe und Privatschulen explosionsartig, weil Eltern selbst Verantwortung übernehmen.
Wir leben in einer Zeit des Übergangs, aber die Klassenzimmer sehen noch fast so aus wie anno 1900. Unsere Kinder befragen derweil ihre sündhaft teuren und schnellen Smartphones nach Informationen aller Art. In der Schule jedoch müssen sie die Wissensmaschinen des 21. Jahrhunderts abschalten. Und dazu sollen die Eltern schweigen?
Josef Kraus nennt Väter und Mütter, die sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder machen, Helikopter-Eltern. In meinen Augen sind sie etwas anderes: Verantwortungsbewusste Erziehungsberechtigte, die bereit sind, ihre Kinder der staatlichen Schule wegzunehmen - notfalls mit dem Rettungshubschrauber.