Inklusion Behinderte Kinder lernen an Regelschulen besser

Sonderpädagogin mit Schülerinnen (Archiv): Wie gut funktioniert Inklusion?
Foto: Henning Kaiser/ picture alliance / dpaBildungsforscher haben ein Problem: Jede ihrer Studien und Empfehlungen wird schnell verkürzt, verfälscht und instrumentalisiert. Denn Debatten um Kindergärten, Schulen und Unis werden mit einer Leidenschaft geführt, die selten ist in der Politik. Ob es um Gesamt- oder Gemeinschaftsschulen geht, um das Turbo-Abitur oder eine Kita-Pflicht - Eltern, Politiker, Lehrer neigen dazu, gefühltes Wissen mit Tatsachen zu verwechseln.
Die heftigste Debatte tobt gerade um die Inklusion behinderter Schüler. Jedes Kind hat das Recht auf gemeinsamen Unterricht, so verlangt es eine Uno-Konvention, die vor fünf Jahren auch in Deutschland in Kraft trat. Das heißt: Behinderte dürfen eine Regelschule besuchen, wenn sie beziehungsweise ihre Eltern das wollen. Sie dürfen nicht mehr auf Förderschulen abgeschoben werden.
Jetzt könnte eine neue Studie den Streit befeuern. So kommen Wissenschaftler vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) zu dem Schluss, dass Kinder mit Förderbedarf mehr und besser lernen, wenn sie mit nichtbehinderten Kindern gemeinsam unterrichtet werden. Sie schneiden im Lesen, Zuhören und Rechnen deutlich besser ab als vergleichbare Schüler an Förderschulen, heißt es in dem Papier, das SPIEGEL ONLINE vorliegt.
Bis zu einem Jahr Lernvorsprung
Das IQB soll die Bundesländer dabei unterstützen, vernünftige Bildungspolitik zu machen, es vergleicht in eigenen Tests regelmäßig die Leistungen der Schüler in Deutschland. Für die neue Studie "Wo lernen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf besser?" haben die Autoren Daten von Grundschülern aus dem Jahr 2011 neu ausgewertet. Der Text soll demnächst in der "Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie" erscheinen.

Demnach sind Kinder mit Förderbedarf an Regelschulen ihren Altersgenossen an Förderschulen im Lesen und in der Mathematik um ein halbes Jahr voraus, im Zuhören sogar um ein Jahr. Die Forscher sind selbst erstaunt. Der Lernvorsprung sei "überraschend groß", so zitiert die "Zeit" die Leiterin des IQB, Petra Stanat. Sie habe damit nicht gerechnet.
Befürworter der Inklusion werden das als Argument nutzen - auch als Argument gegen Förderschulen, die früher Sonderschulen hießen und oft einen noch schlechteren Ruf haben als ehemals Hauptschulen.
Andere Experten warnen jedoch vor voreiligen Schlüssen: "Man darf die Förderschule nicht verteufeln", sagt Elke Wild von der Uni Bielefeld. Die Psychologin leitet seit zwei Jahren das Projekt BiLief, eine Längsschnittstudie zu Inklusion. Wild und ihre Kollegen beobachten 450 Kinder, die unterschiedliche Schulformen in Nordrhein-Westfalen besuchen.
Sind Regelschulen immer die bessere Wahl?
Ihr Zwischenfazit: Ja, behinderte Kinder an Regelschulen sind in ihrer Lese- und Rechtschreibkompetenz erfolgreicher als Kinder an Förderschulen. Über die Zeit hinweg, also im Längsschnitt, verringert sich der Vorsprung jedoch etwas. Wild erklärt diese Beobachtungen damit, wie Kinder auf Schulen verteilt werden - und nicht damit, dass Regelschulen per se besser sind. Alle Schulformen hätten daher durchaus ihre Berechtigung, sagt Wild. Und die Forscherin teilt die Sorgen mancher Eltern, dass die schulischen Leistungen ihrer nicht behinderten Kinder unter zu viel Inklusion leiden könnten. Würden alle Kinder von Förderschulen auf eine Regelschule wechseln, "würde das Niveau dort sinken", so Wild.
Je schwerer die Behinderung, desto größer sei außerdem die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind schon früh die Schule wechselt oder eine Klasse wiederholen muss und schließlich auf einer Förderschule landet. Je geringer die Behinderung beim Schuleintritt, desto höher die Chance, dass ein Kind von Anfang an besser mitkommt und vom Besuch einer Regelschule profitiert.
Die Autoren der IQB-Studie räumen ein, sie hätten den Schweregrad des Förderbedarfs in ihrer Arbeit nicht berücksichtigen können. Auch sei es möglich, "dass die kognitiven Grundfähigkeiten durch die Art der Beschulung beeinflusst worden sind".
So wird auch nach der Veröffentlichung der Ergebnisse die Debatte um die Mammutaufgabe Inklusion weitergehen. Lehrer werden klagen, sie seien mit verhaltensauffälligen Kindern überfordert. Eltern nichtbehinderter Kinder werden fürchten, das Lernniveau ihres Nachwuchses könnte leiden. Eltern behinderter Kinder werden für den Regelschulbesuch kämpfen. Und Politiker werden versuchen, den Schulumbau möglichst billig voranzutreiben. Und die Bildungsforscher werden weiter arbeiten und damit leben müssen, dass ihre Ergebnisse verkürzt wiedergegeben werden.

Die neue Präsidentin der KMK, Sylvia Löhrmann, will, dass Bund und Länder bei Schulen zusammenarbeiten - trotz des Kooperationsverbots im Grundgesetz. Ein Schwerpunkt ihrer Präsidentschaft: die Inklusion behinderter Kinder. mehr...