Jugend-Partytrend Botellón Massenbesäufnis mit Alpenblick

Die Schweizer Jugend bürgert gerade einen spanischen Brauch ein: Botellones, kollektive öffentliche Trinkgelage. Entsetzte Politiker können die Hochprozent-Partys kaum verhindern. Halb so schlimm, sagen Jugendliche - die Schweiz habe bei der EM sogar die Holländer überlebt.

Das Mitbringsel eines spanischen Studenten hat in der Schweiz für einen Trend unter Jugendlichen gesorgt, den viele Politiker als Gefahr sehen. Als Javier Martinez, 22, für sein Auslandsstudium nach Genf kam, wollte er sehen, ob ein Brauch seiner Heimat auch im Alpenland ankommen könnte: Botellón, das abendliche Trinkgelage auf einem öffentlichen Platz.

Testweise startete Javier eine Facebook-Umfrage: Wer hat Lust auf Botellones? Das hatten viele junge Schweizer. Am 18. Juli lief in Genf das erste Botellón, über 1000 junge Menschen kamen und tranken im Parc des Bastions alles, was Prozente hat.

Eltern und Politiker reagierten schockiert: In ihren Augen geht es nur um ein sinnloses Massenbesäufnis, das nichts als Dreck und Verwüstung hinterlässt. Doch der Trend war schon nicht mehr aufzuhalten: Beim nächsten Zechtermin am 22. August in Genf verhinderte nur der Regen, dass mehr als 300 Jugendliche kamen. Nun sind für das Wochenende Botellones in Zürich und Bern angekündigt - die Behörden rechnen mit jeweils mehr als tausend Besuchern. Und für Basel, Solothurn und Bellinzona haben sich auf Facebook bereits Gruppen formiert, im September sollen dort die Partys steigen.

70.000 Teilnehmer in Sevilla

"Jetzt schwappt die Alkwelle über die ganze Schweiz", barmte das Boulevardblatt "Blick". Die Facebook-Gruppe "Botellón in Bern-City" zählt inzwischen über 1200 Mitglieder, die Party soll am Samstag, 20 Uhr, auf der Großen Schanze steigen, einer Grünfläche in der Altstadt. Der Leiter der Gruppe nennt sich Bruno Biertrinker, seinen echten Namen will der 22-Jährige lieber nicht nennen - aus gutem Grund: Sein Vorgänger Silvan S. war der Presse bekannt geworden, die druckte gleich noch ein Foto von ihm. "Einen Tag später hat er Post von der Stadtpolizei Bern erhalten, die ihn persönlich für die Folgen des Botellón verantwortlich machen wollte", sagte Bruno SPIEGEL ONLINE.

Silvan S. sagte das Botellón ab - die Facebook-Gruppe bestand allerdings weiter, mit Bruno als neuem Leiter. Ähnlich lief es in Zürich: Jan F. zogen die Behörden als Gründer der Botellón-Gruppe für Zürich in die Verantwortung. Er sprang ab - und hinterließ eine quicklebendige Partygrupppe auf Facebook. Am Freitag soll die Fete am Zürcher See steigen, rund 7500 Trinklustige haben sich in die Gruppe eingetragen.

Was für die Schweizer der letzte Schrei ist, gilt in Spanien schon lange als fester Bestandteil der Wochenenden vieler Jugendlicher. In den USA gibt es den Spring Break, dort ist binge-drinking so verbreitet und berüchtigt wie in britischen Clubs und Discos. Derweil treffen sich spanische Jugendliche abends auf öffentlichen Plätzen und trinken gemeinsam Selbstgemixtes aus großen Flaschen, den Botellones. Den Alkohol kaufen sie in Supermärkten oder kleinen Läden statt in teuren Bars. Anfangs noch Auftakt einer durchfeierten Nacht, wurden die Treffen mehr und mehr zur Hauptveranstaltung - und wuchsen rasant. Der Höhepunkt: 2004 versammelten sich in Sevilla 70.000 junge Menschen zum Trinken.

"Bruno Biertrinker" aus Bern sagt, ihn fasziniere weniger das "Gruppenbesäufnis" als die Idee, via Facebook "eine große Menge an Leuten an einer Stelle zu versammeln und eine lustige Zeit zusammen zu haben - als spontanes Zusammentreffen von Jugendlichen, ohne wirtschaftlichen Hintergrund".

"Die sind im Hirn krank"

In der Schweiz ist die Furcht vor den Botellones groß. "Wenn sich einige hundert total betrunkene Personen in einem Park treffen, kann alles passieren, vor allem Negatives", so der Soziologe Yves Pedrazzini in der "Neuen Zürcher Zeitung". Der Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät sagte im Schweizer Fernsehen, dass ihn "diese Mobilisierung" schon verunsichere. Wer am Freitag am Zürcher Botellón teilnehme, sei "im Hirn krank", holzte die örtliche Polizeivorsteherin Esther Maurer im Radio.

Dass es keine offiziellen Organisatoren gibt, ist für die Behörden das größte Problem - kein Veranstalter, kein Verbot. So können sie nur reagieren. "Wo in der Stadt ein Botellón geplant ist und wie viele Personen daran teilnehmen, müssen wir selbst in Erfahrung bringen", sagte Stephan Hügli, Leiter der Berner Direktion für Sicherheit, SPIEGEL ONLINE. Er hält die Botellones für "eine gesellschaftliche Fehlentwicklung". Man hat sich vorbereitet, so gut es geht: Der Gemeinderat gab der Berner Polizei den Auftrag, "bei Gefahr von Ausschreitungen, bei Sachbeschädigungen und Vandalismus, aber auch bei Fahren in angetrunkenem Zustand" konsequent vorzugehen. Berns Stadtpräsident Tschäppät gab im Fernsehinterview aber auch zu: "Wir sind noch recht hilflos."

Bierfreund Bruno verteidigt das Ritual und hat dafür durchaus interessante Argumente. Dem Stadtpräsidenten wirft er Doppelmoral vor: "Während der EM, als die Holländer in Bern weilten, war ein Riesenbesäufnis in der ganzen Stadt", sagte der 22-Jährige SPIEGEL ONLINE. Trotz der Müllberge habe der Stadtpräsident von einem enormen Image-Gewinn für die Stadt gesprochen. "Wenn jedoch ein paar Jugendliche etwas ähnliches planen, aber ohne einen finanzkräftigen Sponsor im Rücken, ist dies natürlich sofort zu verbieten."

Bruno geht noch weiter: "Meine Großeltern setzten sich für 'Love and Peace' ein, meine Eltern für 'Freie Sicht aufs Mittelmeer' - und ich für ein geselliges Botellón. Bei allen Jugendbewegungen war Alkohol im Spiel, aus allen Beteiligten wurden rechtschaffene Schweizer Bürger". Die Situation der Jugendlichen erinnere ihn an einen HipHop-Klassiker der Beastie Boys: "You gotta fight for your right - to paaaaaaarty!"

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