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"Sponsoring" in Polen: Tausche Körper gegen Ware

Foto: Ulrich Krökel

Jugendprostitution in Polen Tausche Sex gegen Smartphone

Hat Polen ein Problem mit Jugendprostitution? Jeder vierte Teenager berichtet über Gleichaltrige, die Sex anbieten und sich dafür Klamotten, Schmuck oder ein Handy von reichen Gönnern bezahlen lassen. Die sogenannten Sponsoren sollen sich ihre Gespielinnen im Web oder direkt im Einkaufszentrum suchen.
Von Ulrich Krökel

Agnieszka ist 17 Jahre alt. Und Aga, wie ihr Spitzname lautet, erzählt gern Geschichten. Zum Beispiel die, wie sie sich vor ein paar Tagen von ihrem Freund Adam getrennt hat. "Er kapiert einfach nicht, dass eine Frau kein Spielzeug ist", sagt sie, nachdem sie sich aufgeregt hat über versäumte Termine und Eifersucht. "Da habe ich ihn zum Teufel gejagt, ich habe schließlich einen Wert."

Das klingt resolut. Doch Agas Selbstbewusstsein wirkt auch ein wenig aufgesetzt, so wie sie da sitzt, viel Makeup, lange Wimpern, kurzer Rock, nackte Beine trotz der winterlichen Temperaturen, rosa Bärchen auf der Handtasche. Immer wieder streicht sich die junge Polin durchs lange braune Haar, kaut zwischendurch auf dem Daumennagel und spielt nervös mit dem Smartphone.

Aga ist eine Tochter aus einer polnischen Mittelstandsfamilie: Der Vater ist Banker, die Mutter arbeitet im Einzelhandel. "Sie verdienen ganz gut, deswegen brauche ich auch keinen Sponsor", sagt Aga. Sponsor? Sie spricht von jungen Frauen, die sich ihr Leben von reichen Männern bezahlen lassen. "Die besorgen es den Typen für eine Bluse oder ein neues Handy. Nutten sind das, nichts weiter."

Aga zeigt auf ein Juweliergeschäft und ruft: "So wie die da!" Vor dem Schaufenster hält ein Mann eine junge Frau im Arm. Sie trägt einen Minirock und Leopardenfellstiefel, er mehrere Plastiktüten mit Emblemen teurer Boutiquen darauf. "Der hat Sex mit ihr und hält sie aus", behauptet Aga.

Beischlaf gegen Geld - das ist nicht das einzige Problem

Ob es stimmt, was sie sagt, lässt sich kaum überprüfen. Doch es gibt mehrere Studien, die ihre Erzählungen plausibel erscheinen lassen. Die neueste Analyse hat die Warschauer Stiftung "Niemandskinder" vorgelegt, die Kinder und Jugendliche schützen will. Demnach könnten sich bis zu einem Viertel der Polen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren bereits mindestens einmal in ihrem Leben "sexuelle Dienste gegen eine materielle Vergütung" geleistet haben.

Die Formulierung klingt deshalb so sperrig, weil es um mehr geht als um klassische Prostitution nach der Devise "Beischlaf gegen Geld". Das kommt bei den Jugendlichen zwar auch vor. "Aber wir reden ebenso von Cyber-Sex und vor allem von Sponsoring", erläutert Gabriela Kühn, die bei "Niemandskinder" ein Programm zum Schutz vor Menschenhandel koordiniert.

Die sogenannten Sponsoren halten die Jugendlichen aus, kaufen ihnen Kleidung, Schmuck und Kosmetikartikel, schließen für sie einen Smartphone-Vertrag ab oder zahlen die Miete. Im Gegenzug liefern die jungen Leute Sex, in welcher Form auch immer. "Solange dies von beiden Seiten aus freiwillig geschieht, ist das in Polen nicht strafbar", sagt Kühn. Meist finanzieren Männer junge Frauen. "Aber es ist nicht so, dass immer alte Herren Mädchen kaufen. Oft sind die Männer nicht viel älter als die Frauen, Mitte 20 vielleicht", sagt Kühn und fügt hinzu: "Es gibt durchaus auch Jungen, die sich auf diese Weise prostituieren." Wesentlich seltener seien dagegen Fälle von Jugendprostitution aus materieller Not.

Beim Sponsoring denken beide: Das ist keine echte Prostitution

Trotz der alarmierenden Befunde lässt sich kaum etwas Exaktes über die Größenordnung sagen. Wie viele junge Menschen prostituieren sich tatsächlich? Wer genau sind die Täter, wer die Opfer? Die Polizei verfügt nur über Fallzahlen zur Prostitution von Mädchen und Jungen unter 14 Jahren, die sich jährlich im zweistelligen oder niedrigen dreistelligen Bereich bewegen. Das straflose Tun und Treiben der 15- bis 18-Jährigen wird nicht erfasst. "Es gibt eine riesige Grauzone", sagt Kühn. Sie räumt ein: "Aus unserer Studie lässt sich nicht direkt ableiten, dass sich tatsächlich ein Viertel aller jungen Polen prostituiert."

Die Forscher haben mehr als 1000 Jugendliche anonym befragt und vier persönliche Gruppeninterviews geführt. Dabei gaben 24 Prozent der 15- bis 18-Jährigen an, von Altersgenossen zu wissen, die sich prostituieren. "Das heißt nicht zwingend, dass ein Viertel der Jugendlichen definitiv schon einmal sexuelle Dienste für Geld angeboten hat", erläutert Kühn. "Aber die Zahlen sind dramatisch." So hätten 48 Prozent der jungen Polen angegeben, dass Prostitution in ihrem Umfeld ein reales Problem sei.

"Das Sponsoring ist auch deshalb so populär, weil dadurch beide Seiten die Illusion aufrechterhalten, dass es nicht um echte Prostitution geht", sagt Kühn. Und Kühns Kollegin Monika Rudnicka, die als Psychologin am Sorgentelefon der Stiftung arbeitet, bestätigt, dass die Lage der Jugendlichen in Polen besorgniserregend ist: "Bei uns stehen die Apparate nicht still."

Ein Film schockierte das Land - änderte aber wenig

Fachleute wie der Breslauer Soziologe Jacek Kurzepa sehen in dieser Entwicklung eine Begleiterscheinung des Wirtschaftsaufschwungs und der Modernisierung. Die Polen würden einen Konsumrausch nachholen, da sei die Gefahr für charakterlich "unfertige" junge Menschen besonders groß. "Die Unglückseligen schlendern durch die Läden, sehen sich um und träumen davon, was sie sich alles kaufen könnten, wenn sie Geld hätten." Sie würden sich mit anderen Jugendlichen vergleichen und sich schlecht fühlen, wenn sie nicht das allerneuste Handy haben, sagte Kurzepa dem Nachrichtenportal "nowiny24". Er hat zudem ein Buch mit dem Titel "Jung, schön, billig - Die Jugend in den Fängen des Sex-Business" geschrieben. Auf jene 20 Prozent der polnischen Studenten, die Kurzepa zufolge in der Sex-Industrie jobben, trifft vor allem eines zu: "Sie tun es meist aus rein ökonomischen Erwägungen heraus."

Wer sich mit Mädchen wie Aga unterhält, bekommt schnell einen Eindruck vom Leben polnischer Jugendlicher. "Ich will Psychologie studieren und nach London gehen", sagt sie. Noch besucht Aga ein Warschauer Lyzeum - eine jener polnischen Schulen, die der deutschen gymnasialen Oberstufe vergleichbar sind. Ihre Freizeit aber verbringt sie nicht über Bücher gebeugt, sondern hier, in der Shoppingmall "Goldene Terrassen", direkt neben dem Hauptbahnhof. "Es ist mehr los hier als zu Hause", sagt Aga.

Besonders eindrücklich geschildert hat das Phänomen des Sponsorings und der Jugendprostitution vor zwei Jahren der Kinofilm "Galerianki" der 31-jährigen Regisseurin Katarzyna Roslaniec. Sie berichtet über das Schicksal von Gymnasiastinnen, die sich statt in der Schule in einer Shoppingmall herumtreiben - polnisch "galeria". In den Einkaufszentren, von denen im Boomland Polen binnen weniger Jahre Dutzende eröffnet wurden, bieten die Galerianki Sex für Ware an. Der Film hat die Nation aufgerüttelt, geändert hat sich jedoch wenig.

Nicht nur in städtischen Galerias treffen sich Sponsoren und Jugendliche. "In Kleinstädten und sogar auf dem Land ist die Situation der Jugendlichen nicht viel anders", sagt Kühn. Der Kontakt wird oft online hergestellt: Es gibt im Netz zahllose polnische Seiten, auf denen meist junge Frauen unter "Sponsor gesucht" ihre Dienste anbieten. Ob die vorgegebene Altersgrenze von 18 Jahren dort wirklich eingehalten wird, ist kaum zu kontrollieren.

Aga kennt diese Websites nur vom Hörensagen. Sie weiß darüber von ihrem "idiotischen Freund" Adam, von dem Sie sich getrennt hat, weil er sie für ein "Spielzeug" hielt. "Dass der einmal eine Frau sponsert, kann ich mir durchaus vorstellen", sagt sie über ihren "Ex". In Adams Welt zähle nur der Besitz. "Er liebt alles, was teuer ist - auch bei Frauen."

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