Jugendzentren Kampf um die Kiddies
Als Heroen des Alltags - so sieht Benedikt Sturzenhecker, 50, Sozialpädagogen, die sich in Deutschlands Problemvierteln mit schwierigen Jugendlichen abmühen. Sie erinnern den Hamburger Pädagogikprofessor an "Helden in einem Westernszenario", die "sich im Auftrag braver Bürger auf vorgeschobenen Posten der Zivilisation der 'Wilden' annehmen".
Leider, bedauert Sturzenhecker, sei der heikle Job vielen Außenstehenden so "fremd und unbekannt", als lägen die Jugendzentren und -häuser, in denen Randgruppenarbeit geleistet wird, im "Herzen der Finsternis". Nur Insider wüssten gewöhnlich, "was abgeht" bei HipHop-Musik und beim Klicken der Billardkugeln. Selbst Kommunalpolitiker und Amtsleiter hätten "in der Regel keine Ahnung".
Unkenntnis wirft der Wissenschaftler vor allem einem prominenten Professorenkollegen vor: Christian Pfeiffer. Der hannoversche Kriminologe stellt die offene Jugendarbeit in Aufsätzen und Vorträgen radikal in Frage. Neuerdings fordert er gar die Schließung und den Verkauf von Jugendzentren, die zu "Brutstätten der Kriminalität" geworden seien.
"Klapprige Tischtennisplatten, gelangweilte Sozialarbeiter"
Damit hat Pfeiffer, ehemals niedersächsischer Justizminister und Träger des "Bullenordens" der Polizeigewerkschaft, einen Berufsstand zu schriller Gegenwehr provoziert, der sich ohnehin in seinem Renommee bedroht sieht: Die rund 45.000 Mitarbeiter in 17.000 Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit leiden nicht nur unter chronischer Personal- wie Finanznot. Ihnen mangelt es obendrein, so Sturzenhecker, an "politisch-öffentlicher Anerkennung".
Daher erscholl ein Aufschrei der Empörung, als Pfeiffer sich 2006 erstmals öffentlich gegen mehr Steuergelder für Jugendzentren aussprach. Die pädagogische Arbeit dort habe sich "nicht bewährt", viele Treffpunkte würden von "sozialen Randgruppen" beherrscht, es mangele an Konzepten - "da gibt es oft nur eine klapprige Tischtennisplatte und einen gelangweilten Sozialarbeiter".
Prompt entflammte der Pädagogenzorn. In einem offenen Brief. bekundeten über tausend Jugendpfleger, -helfer und -forscher, vorneweg Sturzenhecker, "fassungsloses Kopfschütteln" über Pfeiffers Philippika. Sie bezichtigten ihn der Verbreitung "pauschaler Diffamierungen" und "populistischer Vorurteile".
Es war der Auftakt zu einem erbitterten Schlagabtausch, wie er in der Hochschulwelt selten ist. Die Kritiker könnten "schreiben, was sie wollen", verkündete Pfeiffer unbeirrt und legte mehrfach nach - im Herbst etwa in der "Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe" (ZJJ).
Sind Jugendzentren "gruselige und gefährliche Orte"?
Pfeiffer und seine Mitautoren Susann Rabold und Dirk Baier beschreiben darin Jugendzentren als "eigenständige Verstärkungsfaktoren der Jugendgewalt". Nötig sei daher eine "schrittweise Schließung von Freizeitzentren"; Sozialarbeiterstellen und Sachmittel sollten in Ganztagsschulen verlagert werden.
Seither hagelt es abermals Proteste wie von der "Expertengruppe Offene Jugendarbeit": Ein halbes Dutzend Professoren wirft dem Pfeiffer-Team vor, es bediene sich "subtiler Diffamierungen" und stelle Jugendzentren als "gruselige und gefährliche Orte" dar, abweichend von der "völlig anderen Wirklichkeit".
Pfeiffer stützt sich auf eine Studie seines Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Eine Befragung von 3661 Neuntklässlern habe ergeben, typisch für die zu zwei Dritteln männlichen Besucher von Freizeitzentren sei eine "Zusammenballung von Belastungselementen": unterdurchschnittliches Bildungsniveau und überdurchschnittlicher Ausländeranteil, niedrige Selbstkontrollfähigkeit und ein hoher Anteil straffälliger Freunde. Zudem sei dort der Anteil der Schulschwänzer und Konsumenten harter Drogen dreimal so hoch wie unter den Nichtbesuchern.
Die Tendenz zur Negativauslese in den Freizeitheimen lasse "vermuten", so die Kriminologen, dass sich "innerhalb dieser Gruppe eine Dynamik ergibt, die sich als gewaltfördernd auswirkt" und der "pädagogisch schwer zu begegnen" sei. Erst eine Verlagerung der Jugendarbeit an Ganztagsschulen biete Cliquen die Chance, "aus ihrer sozialen Isolation herauszufinden und in besser durchmischte Freundschaftsnetzwerke hineinzuwachsen".
Wie Erwachsene mit Bitumen, Kot und Industriefett Krieg gegen Jugendliche führen - und wie nomadisierende Cliquen Jugendzentren besetzen
Mit der Schließung von Jugendzentren wäre eine traditionelle Form von Jugendarbeit passé, die Kinder und Jugendliche außerhalb der Schule "in Freiheit zur Freiheit" erziehen will. So lautete das Glaubensbekenntnis ganzer Pädagogengenerationen. Nach dem Aufbau von Freizeitstätten in den Nachkriegsjahren setzte um 1970 herum eine zweite Gründungswelle ein, als Jugendliche im Gefolge der Studentenrevolte nach autonomen Jugendzentren verlangten: "Was wir wollen - JuZ ohne Kontrollen".
Wenngleich pure, erwachsenenfreie Selbstverwaltung oft nach einigen Jahren scheiterte: Geblieben ist der Anspruch, dass, so die Expertengruppe, "PädagogInnen und Jugendliche sich als prinzipiell gleiche Subjekte begegnen und ihre gemeinsame soziale Praxis gemeinsam aushandeln - auch durchaus in Kämpfen um Anerkennung".
"Die Kiddies machen mit dir, was sie wollen"
Dieses Prinzip mag etwa rund um die Tennis- und Kickertische kirchlicher Jugendzentren auf dem Lande auch heute noch umsetzbar sein. Anderswo stoßen Sozialpädagogen bisweilen rasch an Grenzen. Die offenbart beispielhaft das Web-Gästebuch eines Jugendzentrums im Schwäbischen: Jugendliche beschweren sich, es kämen nur noch "Kiffer, Asoziale", die "Geld aus der Jugendhauskasse" klauen. Die Leiterin habe "0,000000 Durchsetzungsvermögen" - "die Kiddies machen mit dir, was sie wollen, du raffst das nicht."
Im rheinischen Meckenheim schloss die Stadt vergangenes Jahr das Jugendzentrum: Es sei zum Treffpunkt kleinkrimineller Jugendlicher geworden, so die Begründung aus dem Rathaus. Zuvor hatten CDU-Junioren per Umfrage festgestellt, dass vier von fünf Jugendlichen das Haus mieden, weil es von "Ausländern beherrscht" sei.
Im niedersächsischen Meckelfeld blieben Stammbesucher fern, als eine Gruppe junger Türken, die Hausverbot in einem Freizeitheim im nahen Hamburg bekommen hatte, nunmehr hier die Herrschaft über das Jugendzentrum anstrebte und das Personal bedrohte, bis die Polizei eingriff. Einen "ähnlichen Ablauf" erlebte die Gemeinde, wie sie dem hannoverschen Sozialministerium meldete, auch mit einer "Gruppe von jungen Kosovo-Albanern", die gleichfalls mit "massiven Drohungen" die Jugendräume zu erobern trachtete.
Kleinkriege mit Bitumen, Kot und Industriefett
Wissenschaftler wie Sturzenhecker wenden ein, Freizeitzentren seien auch deshalb zu "pädagogischen Ghettos" geworden, weil seit Jahren Jugendliche von Straßen, Spielplätzen und Parkbänken vertrieben würden: "Die Rechte der Jugendlichen auf eine Nutzung des öffentlichen Raums werden immer mehr ignoriert." Vielfach riefen Erwachsene die Polizei und beschwerten sich - oftmals übertrieben - über "Lärm, Verschmutzung, Alkoholtrinken, Vandalismus und Gewalttätigkeiten der Jugendlichen untereinander".
Zunehmend versuchten Anwohner, Treffpunkte von Jugendlichen "zu zerstören, indem sie zum Beispiel Bänke oder Sitzplätze mit Bitumen oder Kot beschmieren", registrierte Sturzenhecker. "Auch Tischtennisplatten auf Spielplätzen werden mit Industriefett beschmiert, um Spielen unmöglich zu machen." Die "Gegenaggression" bewirke dann eine "Häufung und Eskalation zu einer Art 'Kleinkriegen'". Am Ende stehe das "Nomadisieren" jugendlicher Cliquen oder deren "Abschiebung" in "pädagogisch betreute Reservate".
Auch das trägt nach Auffassung der Expertengruppe dazu bei, dass "in den Jugendhäusern sich Jungen (und Mädchen) aus benachteiligten Milieus zahlreich aufhalten, dass ihr Umgang rabiater ist als der von 'Mittelschichtsjugendlichen' sowie dass Gewalt, Delikte, Schulverweigerung und andere soziale Abweichungen zur Alltagskultur eines relevanten Teils der Klientel gehören". Allerdings: Dass solches Verhalten seine Ursache in den Jugendzentren habe, erinnere an das "gängige Beispiel von den hohen Geburtenraten in Regionen mit vielen Störchen".
"Flucht in Traumbilder und schöne Pädagogensprache"
Ein ähnlicher "Fehlschluss" sei es, Gewalt in Freizeitheimen zum Anlass zu nehmen, in den Jugendzentren gefährliche "Seuchenherde" zu sehen und sie zu schließen: "Das wäre so", argumentieren die Hochschullehrer, "als würde man vor dem Hintergrund von Gewalt in den Schulen fordern, die Schulen abzuschaffen."
In der "ZJJ"-Dezemberausgabe kontern Pfeiffer und seine Co-Autoren hart: Die Kritiker zeichneten ein "Zerrbild" mit "absurden" Einwänden. Auf die Wirklichkeit großstädtischer Jugendzentren, spotten die Kriminologen, reagierten die Hochschullehrer "mit einer Flucht in schöne Pädagogensprache und in Traumbilder Offener Jugendarbeit".
Pfeiffer sagte SPIEGEL ONLINE, er selbst habe noch "vor 10 oder 15 Jahren" an die Wirksamkeit außerschulischer Jugendarbeit geglaubt. Seither aber habe er "schrittweise gemerkt", dass der "Anteil hochbelasteter Besucher immer größer geworden" sei - "bis gewissermaßen das Gewässer gekippt ist". Ähnlich wie großstädtische Hauptschulen seien Jugendzentren mittlerweile zu "eigenständigen kriminogenen Faktoren" geworden.
"Schuss vor den Bug" für kriminelle Cliquen
Wie sollen die Jugendzentren auf ihr Problempublikum reagieren? Der leidgeprüfte Meckelfelder Jugendpfleger Hans Wahne empfiehlt dem Personal, bei Stress mit gewalttätigen und kriminellen Cliquen "Dogmen aufzugeben" und notfalls mit der Polizei zu kooperieren, ohne gleich deren "verlängerter Arm" zu werden. Wahne: "Ein 'Schuss vor den Bug' - sprich: Jugendstrafe - muss nicht immer eine schlechte Lösung sein."
Sozialdemokrat Pfeiffer, Auslöser der Kontroverse, setzt alle Hoffnungen auf die Ganztagsschule: Wenn es gelinge, die offene Jugendarbeit in die Schulen zu integrieren und mit attraktiven Sport-, Musik- und Kulturangeboten bis in die Abendstunden "Lust auf Leben" zu wecken, könnten die jetzigen Randgruppen aufgebrochen werden.
Mit rascher Umsetzung ist zumindest in Hannover kaum zu rechnen. Pfeiffers Heimatstadt, die 42 Jugendheime betreibt oder fördert, mochte sich vergangene Woche seinen Vorschlag nicht zu eigen machen, "ein oder zwei Freizeitzentren" aufzulösen, zu verkaufen, mit den frei werdenden Personal- und Sachkosten eine Gesamt- zur Ganztagsschule auszubauen.
Fürchten müssen die Verfechter außerschulischer Jugendarbeit aber, dass die neue Debatte zur weiteren "Stigmatisierung der Einrichtungen und des pädagogischen Personals" führt, wie die Expertengruppe zu bedenken gibt. Gegen die Rufschädigung hat Pfeiffer-Kritiker Sturzenhecker einen guten Rat parat. Jugendpolitiker sollten über die "terra incognita" der Jugendzentren nicht immer nur reden, sondern selber mal bei den Kids vorbeischauen.
"Die beißen nicht", versichert der Professor, "meistens jedenfalls."