Kinder im Seniorenheim "Hier dürfen wir lauter sein als im Kindergarten"
"Tsamina mina eh eh
Waka waka eh eh ..."
Aus dem Speisesaal des Altenpflegeheims schallt Shakiras Fußball-WM-Hymne. Ein Mann stoppt seinen Rollator und späht durch die halboffene Tür. Die Esstische wurden zur Seite gerückt, um Platz für die Trommler und Sänger zu schaffen. Sie sitzen in einem großen Kreis, Het Lüthje auf einem Rollstuhl.
Die 88-Jährige ist auf der Sitzfläche ganz nach vorn gerutscht, beherzt haut sie auf das Djembé zwischen ihren Beinen. Die Beine ihrer Sitznachbarn baumeln in der Luft: Jonathan, 5, und William, 6, sind so klein, dass ihre Füße von den Stühlen aus noch nicht auf den Boden reichen. Die beiden Jungs trommeln auf Bongos. Zu sechst sind sie mit ihrem Erzieher aus der Kita nebenan herübergekommen, um mit den Bewohnern des Altenheims zu musizieren.
Kita und Altenheim, diese Kombi wurde jahrzehntelang vor allem mit Ruhestörung oder Lärmbelästigung in Verbindung gebracht. Seniorenheime wurden am Stadtrand gebaut, Kinder und Alte streng getrennt. Doch grüne Wiesen helfen nicht gegen Einsamkeit. Und Erzieher ersetzen keine Großeltern.

Und alle Hände hoch! William, Jonathan und Het Lüthje (ganz links) sind begeistert dabei
Foto: SPIEGEL ONLINEWer heute "Kita und Altenheim" googelt, bekommt als Ergänzung von der Suchmaschine "unter einem Dach", "Kooperation", "Besuch" und "Zusammenarbeit" vorgeschlagen. Offenbar scheint vielen wieder einzufallen, was eigentlich selbstverständlich ist: Die Alten können von der Lebensfreude der Jungen profitieren, die Jungen von der Weisheit der Alten.
Viele Adjektive treffen auf beide zu: verträumt, unselbstständig, manchmal auch störrisch, eigensinnig, unvernünftig. Und ob Weihnachtsschmuck basteln oder Ostereier bemalen - viele Aktivitäten finden ohnehin in Kitas und in Altenheimen statt. Warum also nicht gemeinsam?
Ein Ort, an dem diese Zusammenarbeit funktioniert, ist Hamburg-Barmbek.
Vor fünf Jahren wurde dort die Kita Eulennest gebaut, direkt neben einem Seniorenheim. Die Leitung sollte ein junger Erzieher und studierter Sozialpädagoge übernehmen: Marko Bleiber, heute 33 Jahre alt.
Wenn Kinder lernen, dass auch Alte, Schwache und Kranke zur Gesellschaft gehören und sie sogar bereichern, werden sie dann rücksichtsvoller sein? In der wissenschaftlichen Literatur habe er fast nichts zum Thema Zusammenkünfte von Kindern und Senioren finden können, sagt Bleiber. Die Lücke will er nun selbst schließen: In seiner Doktorarbeit geht er der Frage nach, ob das regelmäßige Zusammentreffen mit Senioren Auswirkungen auf das Sozialverhalten von Kindern hat. Erste positive Effekte konnte er schon nachweisen. Denn seine Vision ist Wirklichkeit geworden.
Darum geht es in der Doktorarbeit
"Die meisten hier würden nicht mehr auf die Kita nebenan verzichten wollen", sagt Birgit Koops, die im Seniorenheim "Pflegen und Wohnen Finkenau" für die Betreuung der Bewohner zuständig ist. Mindestens einmal pro Woche treffen sich Jung und Alt, sie trommeln und kochen zusammen, vor wenigen Tagen kamen die Kinder mit ihren Laternen im Seniorenheim vorbei, auf der Terrasse gab es Glühwein und Würstchen. Selbst Bettlägerige berichten, wie sehr sie es genießen, den Kindern von ihrem Zimmer aus beim Spielen im Hof zuzusehen.
"Da entstehen kleine Freundschaften", sagt Gerda Kuprat, 84. Die gelernte Schneiderin ist von Anfang an bei der Trommelgruppe dabei. Sie hat selbst keine Kinder, die Treffen mit den Kleinen aus der Kita genießt sie umso mehr. Ein Mädchen, das mittlerweile mit ihren Eltern in London lebe, schreibe ihr immer noch, sagt sie. Andere schenkten ihr selbst gemalte Bilder zu Weihnachten. "Das ist eine richtige Bereicherung."

Gerda Kuprat gibt Rudi und Pino Trommeltipps
Foto: SPIEGEL ONLINEDabei waren die Senioren anfangs skeptisch. Sie hatten Bedenken, dass die Kinder sehr laut sein würden. Und als dann für den Bau der Kita auch noch Bäume gefällt werden mussten, "war die Stimmung im Keller", wie Bleiber sagt: "Für einige hatte das eine symbolische Ausdruckskraft: Das Alte muss für das Neue weichen."
Von diesen Ängsten ist nun nichts mehr zu spüren. "Po, Po. Po, Po wackeln, eins, zwei, drei", singen und trommeln die Alten, während die Kinder in der Mitte des Stuhlkreises im Takt marschieren und die Hüften schwingen.
"Ich freue mich da immer drauf", sagt Het Lüthje. "Meistens bekommt man ja nur nachmittags Besuch, da ist das eine schöne Abwechslung." Sie hat früher selbst als Erzieherin gearbeitet, das Trommeln macht ihr Spaß, das Beobachten der Kinder noch mehr. Rosemarie Wilken, 87, bringt es auf den Punkt: "Ich amüsiere mich, wenn die Kinder fröhlich sind."
Kinder und Senioren zusammenzubringen, sei allerdings kein Selbstläufer, sagt Bleiber. "Ohne gute Planung funktioniert das nicht." Das fange schon mit der Sitzordnung an. "Wenn es die nicht gibt, sitzen die Senioren in der einen und die Kinder in der anderen Ecke."
Wer besorgt Zutaten, Bastelsachen oder Instrumente? Wer zahlt? Und welche Fachkräfte können die Moderation übernehmen? All das müsse vorher geklärt werden, sagt Bleiber.

Samba Camara (links) gibt die Rhythmen vor
Foto: SPIEGEL ONLINEFür den Trommelkurs wurde ein Lehrer engagiert, die Kosten teilen sich Kita und Altenheim. Zudem sind jeweils ein Altenpfleger und ein Erzieher dabei - auch, um Fragen der Kinder zu beantworten.
Das Thema Tod sei allein durch die Nachbarschaft mit dem Altenheim ein präsentes Thema, sagt Bleiber: "Wenn dort ein Leichenwagen vorfährt, fällt das den Kindern sofort auf. Sie wollen wissen, was das für ein langes Auto ist." Er rät zur Ehrlichkeit: "Man kann den Kindern ruhig sagen, dass damit Menschen abgeholt werden, die verstorben ist. Das ist der Lauf des Lebens, der Tod gehört dazu." Für die Kinder sei das in der Regel kein Problem, "die meisten haben auch schon erlebt, dass Großeltern oder Bekannte beerdigt werden".
Eine Person allein könne unmöglich bis zu zwölf Kinder und zwölf Senioren betreuen, sagt Bleiber. "Das ist natürlich auch eine Ressourcenfrage, da hakt es an vielen Stellen." Der gemeinsame Gymnastikkurs musste deshalb eingestellt werden, auch das gemeinsame Kochen findet nur noch unregelmäßig statt. Und selbst bei bester Vorbereitung laufe nicht immer alles rund.
"Wir hatten zum Beispiel einmal die Situation, dass beim gemeinsamen Essen ein Junge seinen Steckrübeneintopf nicht aufessen wollte", sagt Bleiber. Für die alte Dame neben ihm sei das schwer zu akzeptieren gewesen, immer wieder habe sie ihm den Suppenlöffel vors Gesicht gehalten. "Da war ein klärendes Gespräch nötig, schließlich verstehen wir Erziehung heute anders als vor 50 Jahren." Die alte Dame sei daraufhin beleidigt gewesen und nicht mehr zu den Treffen gekommen, "aber auch das müssen wir akzeptieren", sagt Bleiber.
Nicht alle Senioren, aber auch nicht alle Kinder, seien für gemeinsame Unternehmungen zu begeistern. Die Kinder müssten sich erst in der Kita sicher fühlen, bevor an solche Ausflüge zu denken sei. "Und gerade ältere Leute, die im Rollstuhl sitzen, werden gern mal irgendwo reingeschoben, nach dem Motto: Das wird dir schon gefallen. Aber das haut nicht hin", sagt Bleiber.
Auch beim Trommeln verlassen zwei der acht Senioren den Raum, bevor die halbe Stunde vorbei ist. Bleiber findet das völlig in Ordnung. "Jeder, wie er mag." Das gilt auch in der Kita: Lina, 6, ist an diesem Tag das einzige Mädchen in der Trommelgruppe. Die anderen hatten einfach keine Lust.
"Ich finde es schrecklich, wenn Kinder für die Aktivierung von Senioren instrumentalisiert werden", sagt Bleiber. Er rät deshalb auch von Kinderauftritten in Altenheimen ab, bei denen die Kleinen zum Beispiel Demenzkranken vorsingen: "Die Kinder können das nicht einordnen, sind von den Eindrücken überfordert und haben letztlich gar nichts davon. Es muss immer ein Geben und Nehmen bleiben."