
Latein-Pop: Quid novi?
Latein-Pop "Wenn es besser klingt, nehme ich halt den Dativ"
Josie Wickers, 18, hat sich schick gemacht: kariertes Kleid, Silberengel über der Brust, Ohrringe bis zu den Schultern. Es ist nicht irgendein Tag - die Organisatoren vom Rotary Club kommen gleich, die Eltern, die Freunde. Heute, beim Musikschulkonzert, ist sie der Star.
Josie schiebt einen Finger unter die langen Haare, hebt ein Bündel hoch und lässt es wieder ins Gesicht fallen, wie ein Popsternchen, nur dass sie nicht in der VIP-Lounge irgendeines Clubs sitzt, sondern im engen Gang der Rendsburger Musikschule.
"Wenn es besser klingt, nehme ich halt den Dativ - auch wenn das grammatikalisch falsch ist", sagt Josie und lächelt. Versteht ja außer ihr sowieso keiner, denkt sie vielleicht. Denn die Schülerin singt auf Latein: eine Sprache, mit der viele gar nichts anfangen können und die andere in der Schule erst gelernt, dann möglichst schnell wieder vergessen haben, um den Platz in ihrem Kopf für Wichtigeres freizuräumen. Und eine Sprache, die heute niemand mehr spricht, bis auf ein paar Sonderlinge, die meist als Lateinprofessoren oder -lehrer damit zu tun haben.
"Ich mochte Latein, als wir nicht mehr nur Grammatik gepaukt haben"
Also, fast niemand jedenfalls. Tschousie - so spricht ihr 15-jähriger Bruder Aaron den Namen aus - erinnert sich, dass sie einmal bei der Abschiedsfeier eines Lateinlehrers hörte, wie ein paar Gäste ins Lateinische wechselten. Als die Josie und Aaron Wickers dort einen ihrer Songs spielten, war das mit dem Dativ nicht mehr ganz so egal.
Wie begrüßt man sich denn auf Latein? Josie überlegt. "Quid novi", sagt sie - was gibt's Neues. Mehr geht erstmal nicht. "Versuch es doch mal beim Vatikan", frotzelt Aaron, "da kannst du üben." Josie lacht: "Die freuen sich bestimmt über Frauen - besonders über protestantische."
Die Idee mit dem Latein-Pop kam der Schülerin vor zwei Jahren bei einem Wettbewerb für Oberstufenschüler. Obwohl sie erst die elfte Klasse begonnen hatte, kam Josie in die zweite Runde. Die Aufgabe: eine kreative Umsetzung des Themas "Omnia vincit amor", Liebe besiegt alles, eines Wahlspruchs vieler Ritter und Minnesänger im Mittelalter. Josie überlegte, erinnerte sich an ihr Klavier und schrieb den ersten Lateinsong. Mit Aaron als Sänger gewann sie den ersten Preis.
Josie komponierte weiter auf Latein, angespornt von dem Preis, aber auch weil sie die römische Geschichte spannend findet. "Ich mochte Latein ab dem Moment, an dem wir nicht nur Grammatik gepaukt haben", sagt die Zwölftklässlerin, die regelmäßig 15 Punkte absahnt. Nur leider, leider, könne sie Latein in der Oberstufe lediglich als Nebenfach lernen. Was die Musik betrifft, unterstützt sie ihr Klavierlehrer - der zeigt ihr zwischen Mozart und Debussy auch Kompositionstechniken.
Shakira verstehen die meisten ja auch nicht
Die Holztreppe knarzt, Hermann Wickers, 55, biegt um die Ecke und grüßt. "Hallo Papa", ruft Josie. Aaron wippt. Können Sie Latein, Herr Wickers? "Ach was", sagt er mit Bassstimme und lächelt, neben den Mundwinkeln bildet sich eine einzige tiefe Falte. "In meiner Zeit hat ein Hauptschulabschluss noch gereicht, um Karriere zu machen", sagt Wickers. Und, skeptischer: "Ist schon toll, was meine Maus macht - aber wenn die an der Straßenecke singt, versteht doch keiner was."
Andererseits: Wenn Shakira auftritt, verstehen die meisten Deutschen ja genauso wenig, und auch die Themen sind nicht weit entfernt vom Modepop. Liebe, Hass, Intrigen - wenn Josie Ovids Metamorphosen besingt, tauchen zeitlose Motive auf. Manchmal spielen die beiden Wickers auch Phil Collins, die Red Hot Chili Peppers oder Oasis - in ihrem Proberaum im Keller, den Vater Hermann eingerichtet hat, mit einer fünfköpfigen Band namens Soakin' Wet.
Experimente mit Latein-Pop gab es zuvor von der Wihelmshavener HipHop-Gruppe Ista, außerdem zum Beispiel von einigen finnischen Musikern. In Deutschland ist das ausgesprochen ungewöhnlich. Für ihre Latein-Band Jaw haben Josie und Aaron kürzlich ihre erste CD aufgenommen. "Fortis es" heißt sie und enthält neben sechs Songs wie "Voluntas Fatalis" oder "Ab Peregrino Relicta" auch PDF-Dateien mit den Texten, freundlicherweise auch gleich mit der deutschen Übersetzung.
"Das war schon schräg im Studio", erinnert sich Josie. "Man steht da ganz allein, und um einen rum ist alles dunkel." Wie sich die CDs verkaufen? "Die Studiokosten haben wir reingeholt - war aber auch ein Freundschaftspreis."
Der Konzertraum füllt sich. Josie greift sich ins Haar, Aaron wippt jetzt noch schneller mit dem Stuhl. Vier Auftritte noch von anderen Musikschülern, dann sind die Wickers-Geschwister an der Reihe.
Der Auftritt: Und wer hat's verstanden?
Aaron springt auf, rennt in den Konzertsaal - und kommt mit rotem Kopf zurück: "Ich hab da gerade jemanden von seinem Platz vergrault, auauau. Der hatte 'nen Anzug an und Blumen in der Hand, das war sicher einer der Herren vom Rotary Club."
Es geht los. Josie geht zum Konzertflügel des winzigen Saals, den die Abendsonne in eine Sauna verwandelt hat. Aaron schnappt sich ein Cajon, eine Holzkiste, die als Rhythmusinstrument dient. Normalerweise spielt er Schlagzeug, heute hat er die sanfte Variante gewählt. So bleibt auch vom Klang des Flügels etwas übrig.
Parricidium fraternum heißt das erste Lied, Brudermord. Thema ist ein Fluch, der auf den Söhnen des griechischen Sagenkönigs Ödipus lastet.
Einen Augenschlag lang blickt Josie zu ihrem Bruder, dann hebt sie die Hand, spielt den ersten gebrochenen Dreiklang. Aarons Stimme schmiegt sich darunter, angenehm weich, etwas nasal über dem gleichmäßigen Pulsieren des Cajons. Manchmal zieht er die Vokale in die Länge - und plötzlich klingt eine Sprache cool, die im Klassenzimmer meist so sexy klingt wie eine Einkommensteuererklärung.
Pop auf Latein, für fast alle im Publikum ist das neu. Frage an einen Zuhörer: Haben Sie denn etwas verstanden? Der Herr, graumeliertes Haar, Rotarier, lächelt. "Nee, da müsste ich den Text schon lesen", gibt er zu. Eine Frau vor der Tür hat immerhin "irgendwas mit Pferd" verstanden. Nur eines ist bei beiden angekommen: Latein kann wunderschön klingen.