Schul-Klischees im Faktencheck Kleine Klassen lernen besser - oder doch nicht?

Oh Gott, so viele Schüler! Lehrer beklagen oft, ihre Klassen seien zu groß, Eltern stimmen gern mit ein. Wie viel ist dran an der gefühlten Wahrheit, die Klassen würden immer größer? Und nützen kleinere Lerngruppen tatsächlich dem Unterricht?
Von Heike Sonnberger
Eine neunte Klasse in Bayern: Viele Lehrer stöhnen über zu große Klassen

Eine neunte Klasse in Bayern: Viele Lehrer stöhnen über zu große Klassen

Foto: Armin Weigel/ picture-alliance/ dpa

Fast 30 Kinder, alle um die zehn Jahre alt, und alle schreien durcheinander. Oder: Fast 30 Kinder, alle etwa 15 Jahre alt und alle kichern und feixen. Es kann sehr anstrengend sein, eine Klasse unter Kontrolle zu bringen. Je mehr Schüler darin sitzen, desto schwieriger ist das. Oder?

Auf jeden Fall empfinden viele Lehrer große Klassen als Problem. Etwa zwei Drittel der Pädagogen, die die Vodafone-Stiftung  im vergangenen Jahr befragen ließ, halten die Klassen an ihren Schulen für zu groß. Am unzufriedensten sind Gymnasiallehrer: Drei Viertel finden die Klassengröße schlecht oder sehr schlecht, nur jeder Vierte ist damit halbwegs zufrieden.

Das zeigen die Zahlen:

Zumindest der Vorwurf, dass die Klassen heute viel größer seien als früher, ist Unsinn. Tatsächlich werden die Klassen seit einigen Jahren stetig kleiner. An Hauptschulen und Grundschulen ist der Trend am offensichtlichsten. Vor sechs Jahren saß in den Klassen dort im Schnitt ein Schüler mehr.

An Gymnasien gingen 2006 noch 27,2 Schüler in jede Klasse der Jahrgangsstufen fünf bis zehn, 2011 waren es 26,6. An Realschulen sank die durchschnittliche Klassengröße im gleichen Zeitraum von 27 auf 26,1 Schüler.

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Volle Klassen gibt es natürlich trotzdem, denn über das Gefälle etwa zwischen Städten und ländlichen Gemeinden sagen die Zahlen wenig aus. So suchen manche Schulen auf dem Land händeringend nach Kindern, während sich Schulen in großen Städten vor Anmeldungen kaum retten können.

Dass die durchschnittliche Klassengröße gesunken ist, liegt zum einen an schrumpfenden Schülerzahlen, zum anderen an gezielten Bemühungen der Politiker, die Klassen kleiner zu bekommen. So hat zum Beispiel die Hamburger Schulbehörde die maximale Klassengröße seit 2008 an Grundschulen von 30 auf 23 Kinder, an Stadtteilschulen von 28 auf 23 und an Gymnasien von 30 auf 28 Schüler gesenkt. Die Bildungspolitiker entsprechen mit solchen Maßnahmen dem Wunsch von Eltern und Lehrern - doch nützt es auch den Schülern?

Das sagen Experten:

Die meisten Bildungsforscher sind sich einig: In kleinen Klassen lernen Kinder und Jugendliche nicht automatisch besser. Die Klassengröße wirke sich nicht nachweislich auf die Leistungen der Schüler aus, sagt der Bildungsökonom Ludger Wößmann von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. "Gute Lehrer können guten Unterricht geben, egal ob 25 oder 30 Schüler in ihren Klassen sitzen."

Wenn statt 40 plötzlich 80 Schüler gemeinsam lernen müssten, könne die Leistung zwar sinken. Doch in Deutschland bewege sich die Klassengröße überall in einem Rahmen, in dem ein paar Schüler mehr oder weniger keinen großen Unterschied machten, sagt Wößmann.

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Halbwahrheiten rund um die Schule: Lehrer sind faul, Klassen sind groß

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Das sieht die Frankfurter Bildungsforscherin Mareike Kunter auch so. Deutschland liege international im Mittelfeld, was die Klassengröße betreffe. Andere Länder mit durchschnittlich größeren Klassen - wie Japan und Kanada - schnitten in der Bildung, etwa bei der Pisa-Studie 2009, aber nicht schlechter ab. "Wenn man wirkliche Effekte erzielen will, müsste man die Verkleinerung der Klassen so stark vorantreiben, dass Schule nicht mehr finanzierbar wäre", sagt Kunter. Kaum eine andere Bildungsmaßnahme ist so teuer, denn dafür braucht man nicht nur mehr Lehrer, sondern zum Beispiel auch mehr Klassenräume.

Trotzdem werden Politiker weiter kleinere Klassen fordern, obwohl sie es besser wissen müssten, sagt Wößmann. Denn sowohl Lehrer als auch Eltern mögen kleine Klassen. "Und Politiker wollen wiedergewählt werden."

Der Hamburger Bildungssenator Ties Rabe (SPD) verteidigte die politischen Anstrengungen, die Klassen zu verkleinern. "Wir hatten die Hoffnung, dass das nützt", sagte Rabe, der bis Ende 2012 auch Chef der Kultusministerkonferenz war, SPIEGEL ONLINE. Oft sei es schwer, definitiv zu sagen, welche Maßnahme die richtige sei.

Auch im Hinblick auf die vielerorts anstehende Inklusion, also den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern, bleibt die Klassengröße ein heiß diskutiertes Thema. Wie groß die Klassen sein dürfen, damit Lehrer dort noch sinnvoll unterrichten können, hänge auch von der Behinderung der integrierten Schüler ab, sagt der Hildesheimer Erziehungswissenschaftler Norbert Grewe. "Für Autisten sind 25 Mitschüler womöglich ein Horror, für Kinder mit Down-Syndrom vielleicht gar kein Problem."

In einer fünfteiligen Serie geht SPIEGEL ONLINE gängigen Annahmen über den Lehrerberuf nach und deckt auf, was davon Fakt und was Mythos ist. Dies ist der dritte Teil, demnächst folgen Antworten auf die Fragen: Fehlen überall Lehrer? Fallen dauernd Stunden aus? Lesen Sie hier den ersten Teil über Lehrer und Freizeit hier, den zweiten über Lehrergehälter hier.


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