Lehrerhasser-Polemik Das große Kuscheln und Wuscheln

Mit ihrem "Lehrerhasser-Buch" sorgt Gerlinde Unverzagt für Furore. In SPIEGEL ONLINE beschreibt die Berliner Autorin den Schulalltag aus Sicht einer vierfachen Mutter. Zum Start der Serie: Wir haben uns alle lieb - das flauschige Schonbiotop Grundschule und das spätere böse Erwachen.

Zwei kleine Jungs haben sich in der Pause gekloppt. Die Mutter des unterlegenen spricht am nächsten Tag die Lehrerin an, fragt, ob sie den Angreifer nicht zur Rechenschaft ziehen wolle. Schließlich habe er ihrem Sohn doch ziemlich übel mitgespielt und außerdem unstrittig als erster hingelangt. Doch die Lehrerin hebt hilflos die Hände: "Was soll ich denn machen? Ich habe sie doch alle so lieb!"

Ja, was soll man da bloß machen?

"Da ist aber auch ganz was Süßes!", entzückt sich die Lehrerin meines Jüngsten und wuschelt ihm durchs Haar. Fällt ihr eigentlich auf, dass der Junge augenblicklich stocksteif dasteht, ergeben die Augenlider schließt?

Liebe wird an der Grundschule ganz groß geschrieben und taugt als Begründung für alles. Aus Liebe kommt ein Angreifer ungeschoren davon, aus lauter Liebe wird gekuschelt und gewuschelt, was das Zeug hält. Liebe steckt sogar dahinter, wenn eine Lehrerin sich dagegen sträubt, von ihrem Dienstherrn an eine andere Schule versetzt zu werden. Kaum hat sie nämlich den ihr anvertrauten bunten Haufen aus verzogenen Prinzessinnen, großmäuligen Achmeds und blassen Gameboy-Daddlern in "ihre" Kinder verwandelt, versucht sie die Elternschaft gegen ihre drohende Versetzung zu mobilisieren - mit dem Argument "Gerade jetzt, wo ich Ihre Kinder so lieb gewonnen habe..."

Wenn Pädagogen auf den Arm wollen

Mehr als alles andere will die Grundschullehrerin gemocht und nett gefunden werden. Was sie tut, tut sie aus Liebe: "Bloß nicht verbessern!", weist sie besorgte Erstklässler-Eltern an. Und malt sogleich die furchbarsten Konsequenzen für den spielerisch lernenden Nachwuchs in düsteren Farben: Für den Fall, dass die Eltern früh auf korrekter Schreibweise bestünden, liefen sie Gefahr, die sprudelnden Quellen der Schreibfreude, die just die Lehrerin mit so viel Mühe freigelegt hatte, abrupt versiegen zu lassen. "Die Buchschrift, wie wir das fehlerfreie Schreiben hier nennen", lächelt sie nachsichtig, "die hat noch so viel Zeit."

Das böse Wort vom Schulstress fällt und ruft das andere Gespenst unbeschwerter Schultage gleich mit auf den Plan: Leistungsdruck. Einige Eltern erbleichen. Uns alle durchfährt ein kalter Schauer, was die Lehrerin mit unverhohlen zufriedener Miene goutiert. Dabei hatten manche Eltern doch nur zuerst sich selbst, dann einander und schließlich die Expertin fürs frühe Lernen fragen wollen, was man denn nun sagen solle, wenn das Kind frage, ob "Fogel" beispielsweise denn nun so richtig geschrieben sei? Die wahrheitsgemäße Antwort könne das Kind verschrecken, andererseits wolle man nicht dreist lügen. Denn wie stehe man da, wenn das Kind eines Tages selbst dahinterkomme, wie der Vogel vorne geschrieben wird?

Da schüttelt die Expertin fürs Lernen betrübt den Kopf. "Das hat noch ganz viel Zeit. Schauen Sie doch lieber mal auf diese wunderbaren kleinen Geschichten." Sie deutet auf die Wand, an der sich jedes Kind mit einer Art Text über den letzten Wandertag verewigt hat. Zumindest die Buchstaben sind gut lesbar, noch dazu auf Bildzeitungsschlagzeilenformat vergrößert. "Sie erkennen sicher die phonetische Rechtschreibung", setzt sie keck hinzu, "die Kinder schreiben eben, wie sie sprechen."

Im Schonbiotop Grundschule als einer Art verlängertem Kindergarten, mit Klassenzimmern, in denen die Spielecke die Tafel beinahe verdrängt, ist für Anstrengung jedweder Art kein Raum. Alles passiert schön spielerisch und prinzipiell druckfrei. Nein, ich fange nicht an zu zetern über die Zettelwirtschaft meiner drei größeren Kinder, die in ihren sechs Grundschuljahren nicht gelernt haben, eine Art Ordnung in dem Papierwust zu halten, die ihnen wenigstens erlauben würde, das Arbeitsblatt vom Mittwoch am Donnerstag wiederzufinden. Für die Gruppenarbeit noch stets ein Freifahrtschein zu ausgiebigen Quatschrunden war, in denen der Unterrichtsstoff sang- und klanglos unterging. Für die Projektwochen nicht mehr als eine Art ausgedehnter Wandertag mit ein bisschen Schule und ohne Hausaufgaben waren. Die schon klasse spielen konnten, als sie in die Schule kamen und sich aufs Lernen gefreut haben. Und dann ganz verspielt auf der nächsten Schule verzweifelt sind, weil sie nicht mitbrachten, was dort verlangt wurde: die Fähigkeit zu tendenziell spielfreiem und, mein Gott ja, sogar spaßfreiem Lernen, wenn es unbedingt mal sein muss. Von all dem sage ich nichts, auch, weil ich nicht gleich am ersten Elternabend auf Kollisionskurs gehen will. Denn das hätte wohl zuallererst mein Sohn auszubaden.

Aus Fehlern werden "Lernchancen"

"Fela mus ma machen döfen", heißt es auf dem erklärenden Faltblatt, das die Klassenlehrerin auf dem Elternabend verteilt. "Was Sie vielleicht als Fehler sehen, sind in Wahrheit Lernchancen! Nur aus Fehlern lernen wir. Fehler sind wertvoll für uns, um zu sehen, wie das Kind vorankommt." Sie überprüft die Wirkung ihrer Worte durch einen langen Rundblick. Dann wirft sie die Arme in die Luft: "Ja, ohne Fehler zu machen, könnten wir doch alle gar nicht lernen!" Einige Eltern nicken versonnen, als sie jetzt ihren kleinen Vortrag über die Stadien des Schriftspracherwerbs mit bedeutungsvoll erhobener Stimme krönt: "Die orthographische Kompetenz kommt erst zuletzt."

Wie wahr - wenn überhaupt.

Ich weiß schon aus Erfahrung ganz gut, wie das weitergeht. Mein ältester Sohn hat bis zum Ende der dritten Klasse überwiegend phonetisch geschrieben. Im guten Glauben auf das überlegene Geschick der Fachfrau fürs Deutsche habe ich ihn gewähren lassen und hätte mich eher in Stücke reißen lassen, als ihn auf Auffälligkeiten im schriftlichen Ausdruck hinzuweisen, die man früher so brutal Fehler nannte.

Fehler - wie gemein das schon klingt! Doch, die Ächtung dieses Unworts war längst überfällig und hat die Verbannung aus dem politisch korrekten Sprachgebrauch der Grundschule redlich verdient. Ab in die Tonne mit dem Kinderschreck aus alten Zeiten! Die Liebe in den Zeiten der Grundschule läutert den Fehler zur Lernchance, also darf er bleiben.

Genau wie die Zensuren - vergessen wir Erwachsene besser die rohe Sitte von einst, kleine Kinder mit Ziffern zu malträtieren. Die Kinder dagegen wetteifern: "Hast Du schon Noten?" fragte ein Sechstklässler mitfühlend. Mein Drittklässler nuschelt verlegen. "Nee, wir haben noch Gespräche und verbale Verurteilung." Was der Große lässig kommentiert: "Manno, ist ja baby."

Plötzlich werden Eltern als Hilfslehrer rekrutiert

Erst ab dem fünften Schuljahr gibt es Noten, die das Blümchen, den kleinen Stern oder das Lachgesichtchen ablösten, die in den Jahren davor dem Kind eine glasklare Rückmeldung über seinen Leistungsstand geben. Selbstverständlich hat der Faktor Rechtschreibung nur einen klitzekleinen Einfluss auf die Note, referierte die Deutschlehrerin meines Ältesten beim Elternabend gern. Eine Position, die all jene sattsam bekannten Argumente stützt, die schon ein normal fauler Zehnjähriger gegen mütterliche Anregungen vorzubringen versteht.

Nach den Sommerferien ging's dann richtig zur Sache. Dem neuen Klassenlehrer war an seiner vierten Klasse etwas aufgefallen: "Die Rechtschreibleistungen in der Klasse sind sehr schlecht", eröffnete er den Eltern, nachdem die Hälfte der Klasse beim Test eine Fünf geschrieben hatte. "Da wird es jetzt allerhöchste Zeit, dass Sie nachfassen." Doch das entwicklungspsychologisch und hirnphysiologisch begründete Zeitfenster für Punkt und Komma, Groß- und Kleinschreibung, Fälle und Fallstricke im Schriftlichen hatte sich offenbar endgültig geschlossen. "Ist das richtig so?", fragte mein Sohn im ersten Schuljahr noch pausenlos - im vierten, fünften und sechsten nie wieder.

Natürlich hatte er nie Lust, tägliche Übungsdiktate von mir über sich ergehen zu lassen. Er hat den ganzen Zinnober um die Rechtschreibung schlicht nicht verstanden. Auch hat es ihn nicht weiter beeindruckt, wenn ich es ganz traurig fand, dass er immer noch mit dem Dehnungs-h auf Kriegsfuß steht. Um ehrlich zu sein: Seine Diktate wimmeln bis heute von Lernchancen, die der gymnasiale Unterrichtsbeamte für Deutsch nun nicht mehr mit dem Mäntelchen der Liebe zudeckt. "Wer nicht richtig schreiben kann, hat auf dem Gymnasium nichts zu suchen. Wenn du das nicht draufhast, geh doch auf die Hauptschule oder frag mal deine Mutter, ob sie dir Nachhilfestunden bezahlt."


* Lotte Kühn: "Das Lehrerhasserbuch". Knaur Taschenbuch Verlag; 220 Seiten; 6,95 Euro.

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