Ganz harte Schule Lern­ent­wicklungs­gespräche sind Mumpitz

Kinder, die Selbstverpflichtungen unterschreiben müssen - und Lehrerinnen, die kritisches Feedback einfach abbügeln: Der Elternsprechtag heißt jetzt Lernentwicklungsgespräch, ist aber genauso sinnlos wie zuvor.

Wenn das Schulhalbjahr sich dem Ende entgegen neigt, dann ist es mal wieder so weit. Die Schule fällt aus. Es ist Elternsprechtag. Ich erinnere mich, dass es den bei uns auch schon gab. Wenn meine Mutter hinging, musste ich eine gefühlte Ewigkeit auf der Bank in der Garderobe warten.

In der Schule meiner Tochter läuft das heute anders. Ab der 2. Klasse sind die Kinder beim Gespräch mit dabei. Und sie dürfen - wenigstens pro forma - sogar mitreden! Wahrscheinlich gibt es deswegen für den Elternsprechtag jetzt auch ein viel schöneres Wort, nämlich Lernentwicklungsgespräch, kurz LEG. Dass in der Regel in Hamburg alle Eltern die LEGs besuchen, liegt aber nicht an der wichtig klingenden Wortkreation, sondern daran, dass sie mittlerweile verpflichtend sind.

Ob sie aber viel bringen, sei dahingestellt. Eltern und Kinder werden im 15-Minutentakt an der Lehrkraft vorbeigeschleust. In unserem ersten LEG mit unserer Tochter Olivia reichte das genau dafür, dass die Lehrerin eine kurze Anekdote über ihren Hund erzählen konnte und dass Olivia gefragt wurde, was sie in der Schule noch besser machen könnte.

Olivia gab - wenigstens inhaltlich - die von ihr erwartete Antwort, nämlich: "Ich muss schneller zu Potte kommen." Die Lehrerin schrieb auf einen Zettel: "Ich versuche, schneller zu arbeiten und mich besser zu konzentrieren", und ließ es sich von Olivia unterschreiben - in der irren Hoffnung, dass Olivia durch diese Selbstverpflichtung motivierter sein würde.

Die Eltern-Kolumne für Fortgeschrittene
Foto: Birte Müller

Hier schreiben abwechselnd Birte Müller, Silke Fokken und Armin Himmelrath über das Leben mit Kindern zwischen dem ersten und dem letzten Schultag.

Ich nutzte die Zeit, um ein paar komplett leere Arbeitshefte aus der Tasche zu ziehen und zu fragen, ob ihr bekannt sei, dass Olivia in der Stillarbeitszeit nicht etwa langsam, sondern im Prinzip gar nicht arbeitete. Es war nicht bekannt. Die Kinder sollten ja lernen, selbstständig zu arbeiten.

Ich äußerte den innigen Wunsch, meiner Tochter doch bitte beizubringen, wenigstens die Arbeitsblätter mitzubringen. Es klingt wirklich super, wenn es heißt, dass die Kinder ihre Lernziele selbst stecken und eigenverantwortlich verschiedene Stationen abarbeiten und so. Aber was ist mit den Kindern, die damit überfordert sind - die lernen dann einfach nichts?

Gerne hätte ich darüber mit der Lehrerin diskutiert und ich hatte auch noch viel zu erzählen, von morgendlichen Tränen oder infernalischen Wutanfällen bei den Hausaufgaben, aber unsere Zeit war um. Im Hinausgehen konnte ich immerhin noch um ein richtiges Gespräch bitten.

Hoffentlich gibt es irgendwann auch "Lehrentwicklungsgespräche"

Im darauffolgenden Jahr wurden die Kinder schon im Vorfeld dazu aufgefordert, ihre Stärken, ihre Schwächen und ihre guten Vorsätze zu notieren.

Ich war schon froh, dass meine Tochter überhaupt etwas aufs Blatt geschrieben hatte. Unter "Das kann ich schon gut" hatte sie in einer Art Lautschrift gekrakelt: "Mama einen Latte Macchiato machen". Durch den Lacher war das Lernentwicklungsgespräch für mich immerhin nicht völlig für die Katz. Den fruchtlosen Konflikt über die - aus meiner Sicht - demotivierende und undifferenzierte Art zu unterrichten führte ich mit der Lehrerin aber lieber weiter allein.

Zur Person
Foto: Matthias Müller

Birte Müller, Jahrgang 1973, ist Kinderbuchautorin und Illustratorin. Sie lebt mit ihrem Mann und den Kindern Willi (Down-Syndrom) und Olivia (Normal-Syndrom) in Hamburg. Ihr Lebensmotto: It's not a bug, it's a feature.

Olivias Freund Juri allerdings brachte das Thema im LEG von sich aus auf den Tisch. Er hatte seine Selbsteinschätzung um die Kategorie "Das kann meine Lehrerin noch besser machen" erweitert. Dort hatte er notiert: "Den Unterricht interessanter machen und dass nicht immer alle nur am Tisch sitzen müssen."

Mit den Worten "Tja, das geht ja leider im Deutschunterricht nicht" war aus Sicht der Klassenlehrerin die Sache abschließend geklärt. Sie musste - anders als die Kinder - weder Einsicht zeigen noch eine Vereinbarung unterschreiben.

Ich kann nur hoffen, dass es irgendwann auch "Lehrentwicklungsgespräche" gibt, in denen dann auf Augenhöhe miteinander gesprochen wird. Vielleicht wird dann die Zeit des Unterrichts in Form von 24 gleichen Arbeitsblättern, die still von 24 an den Tischen sitzenden, ganz unterschiedlichen Kindern bearbeitet werden, ein Ende haben.

Bis dahin freue ich mich über die LEGs. Denn sie sind für mich ein Tag, an dem ich meine Tochter nicht an den Ort schicken muss, an den sie nicht gehen mag.

Dafür nehme ich mir eigentlich ganz gerne frei.

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