Lexikonmacher auf Schultournee "Für Lehrer ist Wikipedia ein rotes Tuch"

Hausaufgabe, Referat, Klausurvorbereitung? Schlag nach bei Wikipedia. Lehrer sehen das Online-Lexikon als monströsen Spickzettel, weil viele Jugendliche es blind und kritiklos plündern. Bei Aktionstagen zeigen Wikipedianer Schülern, wie tückisch Wissen aus dem Internet ist.

Der Auftritt von Denis Barthel hat etwas von einer Werbeveranstaltung, doch seine Mission ist anders: Er will warnen, nicht werben. Ein Freitagmorgen, acht Uhr, erste Stunde in der Carl-von-Ossietzky-Gesamtschule in Berlin-Kreuzberg. In grauem Anzug spricht Barthel mit 21 Schülern der 10. Klasse. Der Projektmanager und Administrator von Wikipedia zeigt in einer Powerpoint-Präsentation verschiedene Einträge aus dem Online-Lexikon. Was die gemeinsam haben: Alle sind schlecht.

"Hier, das sind Technik-Hieroglyphen, versteht kein Mensch", sagt er und zeigt den Eintrag zu FREDFET, einem speziellen Transistor. "Noch ein Beispiel: Weihnachtsmarkt Naumburg, da steht 'festlich geschmückt, gemütliche und stimmungsvolle Atmosphäre', das ist nicht neutral."

Eine Seite nach der anderen nimmt Barthel vor seinem noch schläfrigen Publikum auseinander. Aus jedem Beispiel zieht er eine Schwäche, nach und nach entsteht eine Liste aus Kriterien, die ein guter Eintrag erfüllen muss und die ihn glaubwürdig machen.

Kritik am eigenen Produkt

Der Wikipedia-Mann betreibt Kritik am eigenen Produkt, weiß aber: Zu verlieren hat er nichts. "Ich muss hier um niemanden werben, die Sympathien haben wir schon." Jeder der Schüler nutzt Wikipedia als nimmermüden Helfer bei Hausaufgaben und Referaten.

Der Aktionstag an der Kreuzberger Schule ist Teil eines Projekts, an dem der Trägerverein Wikimedia bereits seit 2006 feilt und das nun in die Pilotphase geht. "Wir wollen Schüler zum richtigen Lesen und Mitdenken animieren", sagt Wikimedia-Sprecherin Catrin Schoneville. Lesekompetenz und kritisches Denken, das sind die klassischen Kernziele einer jeden Schule. Und doch trifft das Projekt auf reges Interesse: "Wir haben eine Menge Anfragen, und es werden mehr, je bekannter die Aktionstage werden", sagt Schoneville.

Die Freude über die Anfragen ist kein reiner Idealismus. Im Konzept zu den Aktionstagen heißt es, Schüler seien eine Personengruppe, die "später in beruflichen Positionen als Multiplikator einer positiven Einstellung zur Wikipedia in Frage kommt". Gleiches gelte für Lehrer: Bei dieser "nicht ganz so computeraffinen Gruppe" sei es wichtig, "sie als Multiplikatoren zu gewinnen".

Wikipedia ist zwar kein an Profit orientiertes Unternehmen, der Trägerverein verzichtet auf den Verkauf von Anzeigen. Das Gelingen allerdings hängt von Spendern ab - so steckt im Warnen doch ein wenig Werben.

Wie jetzt, jeder kann mitschreiben?

Den Schulen scheint das einerlei. Ihr Interesse an den Seminaren ist Ausdruck einer Hilflosigkeit: Medienkompetenz ist zwar fester Bestandteil der Lehrpläne, doch dem Online-Lexikon wird nicht der Raum gegeben, wie es einem Zentralorgan des Wissens gerecht werden würde. Norbert Neuß, Gießener Professor für Medienpädagogik, sieht die Probleme schon bei der Lehrerausbildung: "Nur wenige Hochschulen bieten Medienpädagogik an, sie wird eher noch zurückgefahren." Medienbildung, vor allem der kritische Umgang mit Internet-Quellen, gehöre zur Verpflichtung einer jeden Schule, "daraus darf sie nicht entlassen werden". Doch die Realität führt zu Pragmatismus: "Bevor gar nichts passiert, ist es mir lieber, es macht Wikipedia selbst."

Dass Schülern Wikipedia zwar bekannt, nicht aber vertraut ist, erlebte Denis Barthel bei den bisherigen Aktionstagen in Essen, Stuttgart und Berlin immer wieder. Die Kreuzberger Gesamtschule macht keine Ausnahme. Als er fragt, wer wisse, wie Wikipedia funktioniert, wer die mittlerweile rund 850.000 Artikel geschrieben hat, meldet sich etwa ein Drittel der Schüler. "Ich bin überrascht, dass man da mitschreiben kann, ich dachte, das schreiben die Mitarbeiter von Wikipedia", sagt Naim, 17.

Wenige Schüler wissen, dass praktisch jeder Einträge bearbeiten oder gar neu hinzufügen kann. Viele Schüler halten Wikipedia für ein Unternehmen, das Profi-Schreiber beschäftigt. Aus dem Irrglauben folgt oft grenzenloses Vertrauen. "Ich übernehme die Fakten, schreibe das aber um, damit der Stil nicht auffällt", erklärt der 17-jährige Toran - "das heißt, ich muss den Stil verschlechtern." Kasim, 16, sieht das genauso: "Die Formulierungen sind zu gut, als dass es von mir sein könnte, also übersetze ich es in eine einfache Sprache."

Übungen zur Quellenanalyse

"Einige versuchen es immer wieder, sich mit fremden Federn zu schmücken", sagt ihre Lehrerin Dagmar Bruhn. Bisher ist das Verhältnis von Lehrern zu Wikipedia eine Mischung aus Dulden und Verachten. "Sprechen wir es aus: Für Lehrer ist Wikipedia ein rotes Tuch", so die Pressefrau Schoneville. Viele Lehrer sehen in Wikipedia einen monströsen Spickzettel, der den Schülern zu viel abnimmt: eigene Recherche, eigene Formulierungen, eigene Arbeit.

"Wenig sensibel" nennt Lehrerin Huhn den Umgang ihrer Schüler mit Internet-Quellen. Einmal habe ein Schüler eine Präsentation zu Stalin gemacht. Der sowjetische Herrscher kam gut weg, "kein Wort davon, dass er ein Diktator war, geschweige denn, dass er Menschen umbringen ließ". Der Schüler hatte seine Informationen ausschließlich von einer Kommunisten-Homepage. Als sie von den Wikipedia-Aktionstagen hörte, war Huhn begeistert, das sei ein richtiger erster Schritt.

Die Quellenlage ist für Barthel eines der wichtigsten Kriterien bei der Beurteilung von Wikipedia-Einträgen. Er könne den Schülern zwar nicht in vier Stunden die ganze Kunst der Quellenanalyse beibringen, "aber sie müssen wissen: Verweist ein Eintrag auf keine einzige Quelle, sollten sie sehr skeptisch sein". Um den distanzierten Umgang mit Wikipedia zu schulen, gibt er je zwei Schülern einen Eintrag, den sie an den Schulcomputern auf ihre Qualität prüfen sollen. Die Ergebnisse sind gut: Nun kritisieren sie vieles, was sie vorher übernommen hätten.

"Fragen Sie mal die Lehrer, wie Wikipedia funktioniert"

Die Schüler werden die Erkenntnisse schon bald nutzen können: In wenigen Monaten stehen die Abschlussprüfungen zur Mittleren Reife an, in Berlin gehört die mündliche Präsentation eines Themas seit 2006 dazu. Spätestens dann müsse jeder Schüler wissen, was er da präsentiert, sagt Mittelstufenkoordinatorin Annamaria Naumann. Allerdings seien es nicht die Schüler allein, die Nachholbedarf in Sachen Wikipedia hätten: "Fragen Sie mal die Lehrer hier, ob die wissen, wie Wikipedia funktioniert."

Das erfährt Denis Barthel an diesem Vormittag nicht. Zu jedem Aktionstag gehört auch eine Diskussionsrunde mit Lehrern - aber an der Ossietzky-Schule kommt keiner. Das Interesse der Lehrer sei bisher bei jedem Aktionstag sehr gering gewesen, sagt Cathrin Schoneville, "dabei ist der Austausch mit ihnen mindestens genauso wichtig", weil man Vorbehalte brechen wolle. Schoneville hofft auf mehr Beteiligung der Lehrer, wenn das Projekt richtig in Fahrt kommt. "In diesem Jahr soll es groß angelegt bundesweit gestartet werden", mit Besuchen an vier bis acht Schulen pro Monat.

Mittelstufenkoordinatorin Naumann hält viel vom Projekt, warnt aber auch vor zu großen Erwartungen: "Schüler, die nicht die Lebenserfahrung und Allgemeinbildung haben, werden die Richtigkeit der Einträge nie ganz überprüfen können". Naumann wünscht sich auf der Wikipedia-Seite deutlichere Informationen, wie das Lexikon gespeist wird. "Und einen Hinweis: Bitte auch noch andere Nachschlagewerke nutzen!"


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