Behinderte Kinder an Regelschulen "Es gibt zu viel Angst vor dem ersten Schritt"

KMK-Präsidentin Löhrmann: "Kretschmann will keine Grundgesetzänderung"
Foto: DPASylvia Löhrmann ist Ministerin für Schule und Weiterbildung und stellvertretende Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie hat zum Jahresbeginn 2014 die Präsidentschaft der Kultusministerkonferenz übernommen.
SPIEGEL ONLINE: Sie sind die erste Grüne, die als Präsidentin die deutschen Kultusminister repräsentiert. Was werden Sie anders machen?
Löhrmann: Soziale Gerechtigkeit und gute Leistungen zusammenbringen und nicht gegeneinander stellen. Ich habe ein ganzheitliches Bildungsverständnis, und bei mir wird Beteiligung groß geschrieben.
SPIEGEL ONLINE: Vielen Bundesländern fehlt das Geld, um soziale Gerechtigkeit zu befördern. Sollte der Bund den Ländern helfen können?
Löhrmann: Ja, ich bin dafür, dass der Bund den Ländern hilft, soziale Ungleichheiten abzubauen. Das Kooperationsverbot des Grundgesetzes...
SPIEGEL ONLINE: …das es dem Bund untersagt, den Schulen finanziell oder pädagogisch unter die Arme zu greifen...
Löhrmann: ...dieses Verbot sollte in ein Gebot zur Kooperation verwandelt werden. Der Bund muss die Länder auch bei den Schulen unterstützen dürfen.
SPIEGEL ONLINE: Was werden Sie tun, um das Kooperationsverbot abzuschaffen?
Löhrmann: Ich kann mir keine Zweidrittelmehrheit in Bundesrat und Bundestag zaubern. Deswegen suche ich nach Feldern, wo Bundeshilfen möglich sind.
SPIEGEL ONLINE: Welche sind das?
Löhrmann: Wir müssen schauen, wo das Sozialgesetzbuch des Bundes greift. Also etwa bei Eingliederungshilfen für Zuwanderer oder bei Integrationshelfern für die inklusive Schule. Wir sollten von der Bundesregierung fordern, dass sie an dieser sozialpolitischen Aufgabe der Länder mitwirkt und so die Schulen unterstützt.
SPIEGEL ONLINE: Sollten Sie da nicht eher Ihren grünen Parteifreund, den Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, ansprechen - der das Kooperationsverbot behalten will?
Löhrmann: Kretschmanns Sorge ist, dass der Bund sich dann in die Schulgesetzgebung der Länder einmischt. Das will ich übrigens auch nicht.
SPIEGEL ONLINE: Aber das Ziel einer Abschaffung des Kooperationsverbots ist lediglich, dem Bund wieder Zuschüsse an die Länder oder ein Zusammenwirken mit ihnen zu erlauben.
Löhrmann: Kretschmann will keine Verfassungsänderung. In der Frage aber, ob der Bund die Länder unterstützen darf, habe ich auch Winfried Kretschmann an meiner Seite. Wir müssen die Zusammenarbeit nur gut abgrenzen. Das heißt, sie auf die Sozialpolitik fokussieren und davon wegkommen, dass das mit den Schulgesetzen der Länder zu tun hat.
SPIEGEL ONLINE: Sie wollen ihre Präsidentschaft als eine Art "Jahr der Inklusion" ausrufen, dem gemeinsamen Lernen von Schülern mit und ohne Handicaps. Was haben Sie da konkret vor?
Löhrmann: Bei der Umsetzung der von der Bundesregierung unterschriebenen UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen stehen in diesem Jahr auf KMK-Ebene zwei Dinge an: Erstens wird der nächste nationale Bildungsbericht den Schwerpunkt Inklusion haben. Da sehen wir, wie weit die einzelnen Bundesländer sind. Ich werde mich dafür starkmachen, dass wir diesen Statusbericht nutzen, als Bundesländer voneinander zu lernen: Gelingensbedingungen und Schwächen identifizieren. Außerdem wollen wir gemeinsam verbindliche Module für die Lehrerbildung erarbeiten und verabschieden. Darin soll stehen, was jede Lehrerin und jeder Lehrer können muss, um inklusives Lernen erfolgreich zu gestalten. Das ist das Kerngeschäft von Unterricht heute: der Umgang mit heterogener, vielfältiger Schülerschaft.
SPIEGEL ONLINE: Wenn Ihnen Inklusion so wichtig ist, warum tun sie dann eigentlich in ihrem eigene Bundesland NRW so wenig dafür?
Löhrmann: Wir tun viel für Inklusion! Bis 2017 nutzen wir zum Beispiel 3.200 Lehrerstellen der demografischen Rendite und belassen sie in den Schulen, um Inklusion erfolgreich umzusetzen. Zudem qualifizieren wir intensiv mit Fort- und Weiterbildung, zum Beispiel die Moderatorinnen und Moderatoren, um die Schulen konkret in der pädagogischen Praxis zu begleiten. Es geht ja darum, den Lehrern und Eltern die Sorgen zu nehmen, die sie wegen der Inklusion haben.
SPIEGEL ONLINE: Genau diese Inklusionsmoderatoren sagen aber: Es braucht viel mehr Hilfe vom Land. Man müsse den Schulen zum Beispiel die Chance geben, eine zweite Lehrperson in Klassen mit behinderten Kindern zu schicken.
Löhrmann: Und ich frage: Müssen immer zwei Lehrpersonen in einem Klassenzimmer sein? Gilt das automatisch für sehbehinderte genauso wie für geistig behinderte Kinder? Oder reicht hier vielleicht eine vernünftige Sehhilfe und dort ein Integrationshelfer und in anderen Fällen eine zusätzliche Lehrkraft? Das muss nicht von oben angeordnet, sondern vor Ort differenziert und flexibel entschieden werden. Klar ist: Die Kinder mit Handicap zählen jetzt doppelt, es gibt zusätzliche Ressourcen.
SPIEGEL ONLINE: Wenn vor Ort aber schlicht Geld und Personal für fast 100.000 Schüler mit Handicaps fehlen?
Löhrmann: Ich nehme die Sorgen sehr ernst, aber es gibt auch zu viel Angst vor dem ersten Schritt. Man muss das Lernen mit Behinderten erleben, um zu erkennen, dass es gut ist für alle Kinder. Das braucht Zeit. Darum gehen wir auch schrittweise vor. Inklusion ist eine Generationenaufgabe.
SPIEGEL ONLINE: Auch ein Gutachten des Städtetages sagt ihnen, dass sie viel zu wenig für die Inklusion ausgeben.
Löhrmann: Streitig ist der Umfang, und ob diese Kosten durch unser Gesetz ausgelöst werden. Es geht um die Frage, ob nur das Land für die Inklusion zahlt, oder auch die Kommunen als Schulträger ihren Teil zu dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe beitragen. Bis Ende Januar wollen wir in einer Arbeitsgruppe zusammen mit einem gemeinsam benannten Bildungsökonomen zu einem Ergebnis kommen. Land und Kommunen sollten gegenüber dem Bund an einem Strang ziehen.