Marcs Studienstart Furcht & Flucht vor dem Latinum
Ein glasklarer, ein zwingender, ein hoffnungsfroher Plan: Ich wechsle mein Studienfach von Geschichte auf "Neuere und Neueste Geschichte". Die Idee dahinter ist einfach: So komme ich um mein Lateinstudium herum. Die Historiker ab 1500 wollen von veni, vidi, vici nämlich nichts mehr wissen - und verzichten auf ein Latinum.
Zuerst wollte ich Latein noch lernen. Toll, bestimmt interessant und wichtig. Doch nach der zweiten Ausnahme der vierten Sonderregel zur dritten Konjugation im fünften Fall hatte ich die Nase voll. Weg mit dem Zahlensalat, weg mit Latein. Es ging einfach nicht: Zwei Fremdsprachen auf einmal fühlte ich mich nicht gewachsen. Und mein Nebenfach Arabisch ist gegenüber dem Cäsarensprech ungemein vorteilhaft.
In Latein gibt es sechs Fälle, zu unseren bekannten vier kommen noch Vokativ und Ablativ dazu. Letzterer zeigt an, "wodurch" etwas passiert - also quasi der Durch-Fall. Die Araber hingegen haben ihre Lehren aus Bastian Sicks Grammatikfibel gezogen. Hier gibt es nur drei Fälle: Nominativ, Genitiv, Akkusativ. Der Dativ ist, um es im Ablativ auszudrücken, "genetivo expellitur" - durch den Genitiv rausgeekelt. Drei statt sechs Fälle; Punktsieg für Arabisch. Außerdem sieht die Schrift schön exotisch aus, wie kleine Kringel, Schnecken und Ameisen malt sie sich übers Blatt.
Dass ich den Wechsel nicht früher anging, hatte ideologische Ursachen. In meinem Kopf steckte ein Versprechen, das ich meinen Eltern vor dem Abschied in die Uniwelt gab: "Ich werde niemals mein Studienfach wechseln. Nie nicht. Ich habe mich informiert und will das machen. Ich ziehe das durch, hab' ja auch nicht ewig Zeit."
Tatsächlich konnte ich vor der Uni nicht verstehen, wieso Studenten durch die Fächer zappen wie durchs Fernsehprogramm. Nun ist mir das klar. Und der Wille zum Wechsel vorhanden.
Zur Seite hatte ich Chris. Er ist Luxemburger, zwei Meter groß und will ebenfalls kein Cicerosprech lernen. Außerdem wird Chris von allen nur beim Nachnamen genannt: Schantzen. Männer, die mit Nachnamen gerufen werden, sind ganze Kerle. Sie bauen Häuser mit Händen, nicht mit Bausparverträgen. Sie ringen Löwen mit der Faust nieder - aus demselben Grund werde ich Marc gerufen. Außerdem ist er Luxemburger und zwei Meter groß.
Schantzen also und ich, wir wollten den Wechsel. Und das ging schief. Hier das Protokoll unseres traurigen Versuchs:
Schritt eins: Möglichkeiten ausloten
Der Berater für Bachelor-Studiengänge in Geschichte hat immer donnerstags von zehn bis zwölf Uhr seine Sprechzeit. Er sitzt in einem kleinen Raum mit zwei Ersatzstühlen und geordneten Bücherregalen. Er sagt Sätze wie "Ich kann ihnen Latein nur ans Herz legen" oder "Vielleicht suchen sie sich doch besser ein neues Nebenfach". Doch dann verspricht er Hilfe und wir schreiben unsere Mailadressen auf ein weißes Blatt Papier.
Schritt zwei: Warten
Warten ist nervig. Nach Tagen macht es "pling" im Postfach, und in einer Mail steht: "Ein Wechsel ist möglich. Sie können ohne Verluste ins zweite Semester einsteigen. Ihre ersten Prüfungen werden angerechnet." Dazu sollen wir uns einen Antrag auf Studienfachwechsel besorgen und Herrn Schwendemann kontaktieren.
Schritt drei: Herrn Schwendemann kontaktieren
Er ist die gute Seele des Unibetriebes. Er kennt Antworten auf Fragen, die über drei Textzeilen laufen. Er ist Hirte, wir sind Schäfchen. Seinen Beichtstuhl öffnet er an Montagen und Donnerstagen von 9.30 bis zwölf Uhr.
Schritt vier: Wieder warten
"Ey, wenn ihr zu Schwendi wollt, müsst ihr euch hier eintragen." Um zehn vor halb zehn sitzen bereits acht Menschen im Flur vor Herrn Schwendemanns Büro. Zehn Minuten nach halb zehn wird sich die Zahl verdoppelt haben. Schantzen und ich schreiben unsere Namen auf einen karierten Zettel, der auf einem kleinen Tisch zwischen Dutzenden weiteren Zetteln untergeht. Diese Liste ist unscheinbar, verknittert und bekleckst - aber sie bringt Ordnung in die Studentenhaufen, die an Kaffeeautomaten, Wänden, Schränken lehnen, vor Türen liegen, in Ecken hocken oder auf Stühlen kauern.
Schritt fünf: Den großen Plan enthüllen
Auch das Zimmer des Studienberaters Schwendemann ist voll mit Büchern und Ersatzstühlen. Schantzen und ich nehmen Platz und plaudern sofort los: Bachelor, Hauptfach, Wechsel, bloß kein Latein, Neuere Geschichte, alles schon geklärt, "jetzt brauchen wir nur noch das wie und wann von ihnen".
"Das geht nicht", verblüfft er da. Schweigen. Im Antrag auf Studienfachwechsel, Blatt drei, Schlüsselverzeichnis 2, trägt das Fach "Neuere und Neuste Geschichte" das Kürzel 768. Eigentlich wollten wir genau mit diesem Kürzel unsere Sorgen loswerden.
"Das geht nicht", wiederholt Schwendemann da, "ihr favorisierter BA-Studiengang wird wieder abgeschafft." "Aber den gibt es doch erst seit diesem Semester?" "Wird trotzdem abgeschafft." Kein 768.
Schritt sechs: Zurück zu den Büchern
Nächste Woche steht die erste Klausur in Latein an. Na dann: Ad multos annos.