Missbrauch an katholischen Privatschulen "Die Kirche ist doch keine kriminelle Vereinigung"

Das Kolleg St. Blasien: Hat der Missbrauch System?
Foto: DDPSPIEGEL ONLINE: Pater Siebner, zahlreiche Opfer von Missbrauch an katholischen Schulen und Einrichtungen trauen sich nach Jahren an die Öffentlichkeit. Aus 20 von 27 deutschen Bistümern werden mittlerweile Vorwürfe gemeldet. Lässt sich da noch von bedauerlichen Einzelfällen sprechen, wie es einige Kirchenvertreter weiter tun?
Johannes Siebner: Hinter jedem einzelnen Fall steht ein individuelles Schicksal. Deshalb müssen wir von Einzelfällen sprechen, um dem einzelnen Opfer gerecht zu werden. Aber gleichzeitig müssen wir überprüfen, ob hinter den Einzelschicksalen ein System steckt, ein systematisches oder systemimmanentes Wegschauen und Nichtwissen-Wollen in unseren Einrichtungen.
SPIEGEL ONLINE: Und, hat der Missbrauch also System?
Siebner: Die katholische Kirche ist keine kriminelle Vereinigung. Wer das unterstellt, schießt übers Ziel hinaus. Ort und Zeit der Taten und ganz konkrete Mitbrüder oder Vorgesetzte haben es begünstigt, dass Kinder zu Opfern wurden - und dass ihr Leid und ihre Verletzungen nicht gesehen wurden, dass weggeschaut wurde. Aber zwischen den Tätern selbst gibt es wohl keine Verbindung oder Verabredung, jedenfalls nicht bei den Fällen am Berliner Canisius-Kolleg und bei uns in St. Blasien. Nur von Einzelfällen zu sprechen würde die Sache allerdings verharmlosen. Die Opfer selbst sehen sich nicht nur als Opfer einzelner Täter.
SPIEGEL ONLINE: Wir sprechen also von einem Umfeld, das Missbrauch begünstigt. Psychologen sagen: In der Intimität eines Internats und der abgeschlossenen Welt der Kirche kann es schneller zu Übergriffen kommen - richtig?
Siebner: Ist das so einfach? Ihre Frage ist suggestiv. Die Fälle in St. Blasien haben ihren Ursprung im normalen Schulbetrieb, nicht ausdrücklich im Internat. Ich habe keine Statistik und bin kein Fachmann, aber mein Eindruck ist, dass im Internat eine Gefahr da ist, weil die Beziehungen etwas Hermetisches haben können, weil Corpsgeist eine Versuchung sein kann und weil die Rolle des Erziehers als absolut vertrauenswürdig angelegt ist und sein muss. Das alles ist aber keine Argumentation gegen Internate. Wie es auch kein Argument gegen die Institution Eltern ist.
SPIEGEL ONLINE: Der Missbrauch wird häufig relativiert, zuletzt vom Salzburger Weihbischof Andreas Laun in der Sendung "Menschen bei Maischberger". Da heißt es dann: Auch in evangelischen Schulen gibt es solche Fälle - auch bei den Pfadfindern, in Sportvereinen, in der Familie...
Siebner: Ich beobachte nicht alles, was gesagt, gesendet oder geschrieben wird. Aber ich bin dort traurig und skeptisch, wo eine Relativierung und Distanzierung erfolgt. Dies verstellt den Blick auf die Opfer. Und dies erschwert es, die Perspektive der Opfer einzunehmen.
SPIEGEL ONLINE: Solche Versuche, von der eigenen Verantwortung abzulenken, widersprechen doch völlig Ihren Vorstellungen, wie man mit dem Thema Missbrauch umgehen müsste.
Siebner: Ja, in der Tat: Die Erfahrung der Opfer besteht darin, dass zum Missbrauch nicht nur die Missbrauchstat gehört, sondern auch das Wegschauen in der Institution.
SPIEGEL ONLINE: Wie lässt sich Missbrauch und Lehrergewalt gegen Schüler zuverlässig verhindern?
Siebner: Wir müssen ein Schulklima schaffen, in dem ein Kind schreien kann, wenn es verwundet wird - und in dem der Schrei auch dann gehört wird, wenn er sehr still oder sehr unbequem ist. Solche Schmerzensschreie stören und werden schnell als unpassend diffamiert. Sie stören die Abläufe und den Ruf der Institution. Wir müssen Erzieher und Lehrer schulen, damit sie erkennen, wenn ein Kind verletzt wurde.
SPIEGEL ONLINE: Da formulieren Sie ein Ziel. Was kann man konkret tun?
Siebner: Wir müssen ins Schulklima investieren, und wir müssen die Übernahme von Verantwortung fördern. Schließlich brauchen wir transparente Strukturen und Verfahren, die verlässlich sind und die nicht nur auf dem Papier stehen. Eine Schülermitverwaltung muss auch mitreden dürfen. Wir brauchen unabhängige Stellen, an die Schüler sich wenden können.
SPIEGEL ONLINE: Gehört dazu für Sie die Zusammenarbeit mit Behörden oder die Forderung, dass Lehrer ein Führungszeugnis beibringen müssen?
Siebner: Ich habe nichts gegen das Führungszeugnis - weil wir dadurch Dinge zur Sprache bringen. Ein Beispiel: Als wir vor Jahren einen Lehrer zu einem Austauschprogramm nach England schickten und er dort im Internat schlafen sollte, musste ich ein mehrseitiges Formular über ihn ausfüllen. Und er musste ein Führungszeugnis vorlegen. Erst dachte ich: Das ist doch übertrieben. Dann wurde mir klar: Das ist ein sensibler Bereich, und das Thema wird ernst genommen. Man darf sich allerdings nicht der Illusion hingeben, dass dies als Schutz hinreichend ist. Aber es schafft Vertrauen, weil es das Thema zum Thema macht.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie an Ihrer Schule die Lehrer einbestellt und sie zum Thema Missbrauch befragt?
Siebner: Nein, und das werde ich auch nicht tun. Das ist zwar an mich herangetragen worden, speziell was die vergangenen zehn Jahre betrifft...
SPIEGEL ONLINE: ...wegen der Verjährung...
Siebner: ...aber ich werde nicht 75 Lehrer unter Generalverdacht stellen. Wenn es keinen konkreten Verdacht gibt, werde ich auch nicht meine Mitarbeiter verhören. Mit welchem Recht sollte ich das tun?
SPIEGEL ONLINE: Immerhin vertrauen Tausende Eltern auf die Erziehung und moralischen Werte der konfessionell gebundenen Privatschulen.
Siebner: Ich verstehe die Eltern, die Klarheit und Sicherheit haben wollen, und nehme entsprechende Nachfragen sehr ernst. Aber diesen Konflikt kann ich nicht auflösen. Ich kann doch nicht jeden Lehrer einbestellen, ihm zehn Minuten geben und fragen: Haben Sie schon einmal kleine Kinder unsittlich berührt? Ich kann und will ja auch nicht auf Grund der Tatsache, dass Missbrauch in Familien vorkommt, alle Eltern unter Generalverdacht stellen.
SPIEGEL ONLINE: Wenn nicht so, wie thematisiert man es dann angemessen?
Siebner: Auch ich habe keine fertigen Lösungen. Wer die vorschnell anbietet, will meist nur das öffentliche Interesse beruhigen.
SPIEGEL ONLINE: Sie sagen das so abfällig: öffentliches Interesse. Der Ruf katholischer Privatschulen ist erschüttert. Reagieren müssen Sie.
Siebner: Aber doch nicht mit Aktionismus oder Beschwichtigung. Beides funktioniert nicht, weil es den Opfern nicht gerecht wird. Natürlich will ich den Ruf des Kollegs schützen und den der Kirche, was wäre ich sonst für ein Kollegsdirektor! Aber ich habe eine Entscheidung getroffen: Meine erste Priorität ist es, die Perspektive der Opfer einzunehmen. Das fällt nicht immer leicht. Mein Anliegen ist das Signal an jedes Opfer: Ich glaube Dir. Und ich bin Dir dankbar, dass Du sprichst. Den zweiten Punkt auch ehrlich so zu meinen, dafür habe ich eine Weile gebraucht, das hat mich Kraft gekostet. Das ist eine geistliche Herausforderung.
SPIEGEL ONLINE: Jahrelang wurde allerdings vertuscht und verschwiegen: Einige Opfer wurden bedrängt, Schweigevereinbarungen zu unterschreiben, um Schmerzensgeld zu bekommen.
Siebner: Ich gehe davon aus, dass es solche Fälle gab. Die Opfer denken sich das nicht aus.
SPIEGEL ONLINE: Sollte jeder Fall zur Anzeige gebracht werden?
Siebner: Was ist ein Fall? Wo beginnt Missbrauch? Das ist nicht so leicht und pauschal zu beantworten. Meine erstaunliche Erfahrung ist: Viele Opfer würden nicht reden, wenn es sofort zur Anzeige gebracht würde. Wenn ich allerdings Fürsorgepflicht und Unschuldsvermutung für Mitarbeiter, sogar mit gewissem Recht, vorschiebe, bringe ich die Opfer auch wieder zum Verstummen - die Botschaft nämlich ist dann: Ich glaube Dir nicht. Es ist ein wirkliches Dilemma. Ich sehe da nur unabhängige Ombudsleute als Lösungsansatz.
Das Gespräch führte Oliver Trenkamp