Missbrauch an Privatschulen Im toten Winkel der Schulaufsicht

Odenwaldschule: Missbrauch an Schülern über viele Jahre
Foto: ddpDie Welle der Schreckensnachrichten nimmt kein Ende: Seit bekannt wurde, dass am Gymnasium Canisius-Kolleg in Berlin zwei Lehrer Schüler in den siebziger und achtziger Jahren missbraucht haben sollen, melden sich mehr und mehr Missbrauchs- und Prügelopfer bei Ermittlern und Medien. Sankt-Ansgar-Schule in Hamburg, Kolleg St. Blasien, Aloisius-Kolleg Bonn, Konvikt St. Albert in Rheinbach, Johanneum in Homburg, Klosterschule Ettal, Internat der Regensburger Domspatzen, Odenwaldschule in Heppenheim - die Liste der Privatschulen ist lang und scheint laufend zu wachsen.
Eine Diskussion über Verjährungsfristen ist entbrannt, unter Rechtfertigungsdruck stehen vor allem Kirchenvertreter, die lange schwiegen, sich geschmeidig wegduckten und heikle Vorwürfe lieber intern klärten, statt transparent und entschieden zu agieren. Und auch auch die Rolle der Schulaufsicht wirft Fragen auf - schließlich stellt das Grundgesetz "das gesamte Schulwesen" unter die Aufsicht des Staates. Wo aber sind die staatlichen Schulbehörden, wenn man sie mal braucht?
Experten verweisen auf die Sondersituation an Privatschulen. An Internaten bestehe ein größeres Risiko für sexuelle Übergriffe, sagt etwa der Kieler Rechtspsychologe Günter Köhnken: Persönliche und räumliche Nähe böten viel mehr Gelegenheiten zum Missbrauch. Bei den Tätern sieht Köhnken das Zusammengehörigkeitsgefühl und den Eliteanspruch als Gründe für die jahrelange Vertuschung. Personal, dass von Missbrauchsfällen wusste, habe offenbar versucht, den Schein zu wahren.
Erzbischof Marx: "Übertriebene Solidarität"
Der Münchner Erzbischof Reinhard Marx hat mangelnde Aufklärungsbereitschaft in der Kirche eingeräumt: "Es gab sicher Tendenzen in der Vergangenheit, das Ansehen der jeweiligen Institution nicht zu beschädigen." In Klöstern gebe es möglicherweise eine "übertriebene Solidarität, die es schwer macht, über Negatives zu sprechen", so Marx.
Die staatliche Aufsicht endet meist bei der Genehmigung einer Schule. Eine staatliche Anerkennung zu erhalten, ist für Privatschulgründer schwer und kann sich viele Jahre hinziehen. Konfessionelle Schulen sind dabei deutlich im Vorteil - vier Fünftel der Privatschulen werden von kirchlichen Trägern betrieben. Ist die Schule einmal genehmigt, muss sie kaum noch Rechenschaft ablegen und ist weitgehend einer öffentlichen Kontrolle entzogen.
Besteht an einer staatlichen Schule ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch, ist der Schulleiter verpflichtet, dies der Schulaufsichtsbehörde zu melden. Die Träger privater Schulen verpflichten zwar ihre Schulleiter, an sie zu berichten - ob sie die Informationen dann jedoch außer an Polizei und Staatsanwaltschaft auch an die staatliche Bildungsbehörden weitergeben, liegt meist bei ihnen selbst.
Eine Ausnahme ist Nordrhein-Westfalen: Nach Angaben von Ralf Dolgner, Sprecher des Kultusministeriums, sind dort Privatschulen verpflichtet, Verdachtsfälle auf Missbrauch neben der Polizei und Eltern auch der Bezirksregierung zu melden, bei der die Schulaufsicht liegt.
Markus Thiel, Experte für Bildungsrecht an der Uni Düsseldorf, hält eine solche Meldepflicht bei Verdachtsfällen für durchsetzbar. "Ein Eingriff in die Privatschulfreiheit würde darin nicht liegen, weil etwa Unterrichtsinhalte in keiner Weise betroffen wären", sagte er SPIEGEL ONLINE. Schwieriger sei allerdings die Frage, welche Sanktionen folgen könnten, wenn eine Schule oder ein Schulträger der Meldepflicht nicht nachkomme. NRW-Sprecher Dolgner ergänzt: "Da muss schon viel passieren, ehe die Genehmigung entzogen werden kann."
"Versierte Täter könnten Prüfungen geschickt durchlaufen"
Das Problem: Bei öffentlichen Schulen ist das Land der Arbeitgeber und kann disziplinarisch gegen Lehrer oder Schulleiter vorgehen. Träger von privaten Schulen werden dagegen behandelt wie Unternehmen, die sich lediglich an das Arbeitsrecht halten müssen. Aber wird dies der besonderen Aufgabe von Privatschul-Betreibern gerecht?
Ob fortan die staatliche Aufsicht von Privatschulen erweitert werden muss, soll auch Thema eines Runden Tisches sein, den Bildungsministerin Annette Schavan und Familienministerin Kristina Schröder (beide CDU) für den 23. April einberufen haben. Sie wollen unter anderem Vertreter der Familienverbände, der Lehrer, der Länder und von Schul- und Internatsträgern zusammenbringen, um über Prävention von sexuellem Missbrauch an privaten Schulen zu diskutieren. In manchen Ministerien hält man es für denkbar, dass die Schulbehörden von den Trägern polizeiliche Führungszeugnisse oder andere Nachweise für die Unbedenklichkeit ihrer Lehrer verlangen könnten.
Von Pädophilie-Tests für Lehrer halten Experten indes wenig: "Versierte Täter könnten Prüfungen ganz geschickt durchlaufen. Sie herauszufiltern ist nicht machbar", so Frank Schneider, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. Nach seiner Erfahrung würde kaum ein Täter seine Vorgeschichte enthüllen. Fragen nach der sexuellen Orientierung seien in Bewerbungsgesprächen überdies unzulässig. "Und ein Verfahren, mit dem man Pädophilie objektiv messen könnte, gibt es nicht", sagte Schneider. Er kenne keine Methode, mit der man in einem Bewerbungsverfahren pädophile Neigungen ermitteln könne.
Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) zufolge wurde die katholische Kirche bereits im vergangenen Jahr aufgefordert, von ihren Pfarrern, Theologen und Religionslehrern ein Führungszeugnis und eine Erklärung einzuholen, "dass gegen sie keine polizeilichen Ermittlungen wegen Kindesmissbrauch laufen". Allerdings sollte dies innerhalb der Kirche geschehen, eine Weitergabe an die Schulbehörden fordere Spaenle nicht, stellte ein Sprecher des Kultusministeriums klar. Spaenle schlug eine "schul- bzw. einrichtungsübergreifende Ansprechstelle" vor, an die sich Betroffene künftig wenden können. Auch in anderen Ländern wird über solch eine Ombudsstelle nachgedacht.
"Nie bewusst verschleiert, aber auch nicht bewusst recherchiert"
Insgesamt sehen die Kultusministerien der Länder derzeit allerdings keinen akuten Handlungsbedarf und betonen, es gehe um Einzelfälle; das Vertrauen in konfessionelle oder private Schulträger sei grundsätzlich nicht erschüttert. "Wir müssen aufpassen, dass wir den Kindern keine Angst vor der Schule machen", sagte zudem Ralf Dolgner vom NRW-Kultusministerium. Eine Sprecherin des Ministeriums in Baden-Württemberg verwies auf "ein gut geknüpftes Hilfenetz für solche Fälle". Schulleiter könnten sich etwa "ans Jugendamt wenden oder an schulpsychologische Beratungsstellen".
In Hessen hält man eine Ausweitung der Schulaufsicht für möglich, will aber die Untersuchung der Missbrauchsvorwürfe an der Odenwaldschule in Heppenheim abwarten. Dort waren schon Ende der neunziger Jahre Vorwürfe gegen den Rektor öffentlich geworden, wonach er jahrelang Schüler missbraucht habe. Ein Schüler stellte Strafanzeige, ein Verfahren wurde jedoch nicht eröffnet, weil die Taten schon verjährt waren. Aus dem gleichen Grund sei der Privatschule die Lizenz nicht entzogen worden, sagte die damalige Kultusministerin Karin Wolff (CDU).
Wolff erinnerte sich, dass die Schule die Aufarbeitung der Jahre zwischen 1970 und 1985 "selbst in die Hand" genommen habe - indes offenbar mit mäßigem Elan. Dem Theologen Gerold Becker, einstiger Schulleiter, wird wiederholter sexueller Missbrauch von Schülern vorgeworfen; sein Nachfolger Wolfgang Harder hatte dies 1999 gegenüber der "Frankfurter Rundschau" als "ein Stück Vergangenheit" bezeichnet. Er habe keine Veranlassung gesehen, an die Öffentlichkeit zu gehen - schließlich hätten "alle Menschen auch von Herrn Beckers Wirken profitiert".
Die heutige Schulleiterin Margarita Kaufmann sagte, die Missbrauchsfälle seien "nie bewusst verschleiert worden", allerdings habe die Schule bei diesem Thema "auch nicht bewusst recherchiert". Ein Sprecher des hessischen Kultusministeriums Hessens sagte: "Sollten wir nach den Untersuchungen zum Ergebnis kommen, dass die Schulaufsicht versagt hat, müsste über Veränderungen nachgedacht werden."