
Odenwaldschule: Missbrauch über Jahrzehnte
Missbrauch an Reformschule Warum wir ein Odenwald-Tribunal brauchen
Es läuft auf eine gespenstische Szenerie hinaus: Am kommenden Samstag wird der Bildungshistoriker Ulrich Herrmann im Kurmainzer Amtshof zu Heppenheim zu einer Festrede auf die Odenwaldschule anheben. Die Schule wird dieser Tage 100 Jahre alt. Sie ist so etwas wie das reformpädagogische Gedächtnis Deutschlands, fast alle deutschen Reformschulen beziehen sich irgendwie auf die Einrichtung im Odenwald. Aber man mag sich kaum vorstellen, wie der Festredner das Besondere der Reformpädagogik im Festsaal unfallfrei herausheben könnte: dass sich der Lehrer den Kindern mit besonderer Nähe zuwendet.
Welche Unfallgefahr der Odenwaldschule zum Hundertjährigen droht, kann jeder auf deren Website begutachten. Neben Feuerwerk- und Luftballonbildern gelobt die Schule zwar "lückenlose und rückhaltlose Aufklärung" der Missbrauchsvorwürfe. Dafür steht vor allem Schulleiterin Margarita Kaufmann ein. Dann aber heißt sie die Besucher so willkommen: Die reformpädagogische Schule sei für "Generationen von jungen Menschen eine zweite Heimat, in der sie - getragen von intensiven Beziehungen zu Betreuern, Lehrern und Mitschülern - heranwachsen und sich entfalten können."
In diesem Moment wird manchen Lesern nicht die Idee der Reformpädagogik aufscheinen, sondern der Lehrer Jürgen K., wie er in seinem VW-Bus eine 13-Jährige mit einem Griff an die Vagina geweckt haben soll. Oder der damalige Schulleiter Gerold Becker, wie er Platons pädagogischen Eros als Freibrief für seine pädophilen Neigungen missbraucht.
Sexuelle Belästigung, Vergewaltigungen, Zwangsprostitution
Es ist unvorstellbar, einen 100. Geburtstag zu feiern, wenn beinahe täglich neue Details über die Odenwaldschule der siebziger, achtziger und womöglich neunziger Jahre bekannt werden. Dort haben Lehrer nicht etwa vereinzelt Jungen und Mädchen angemacht. Im Odenwald fanden offenbar sexuelle Belästigung, Vergewaltigungen und so etwas wie Zwangsprostitution statt. Die Odenwaldschule sammelt seit Wochen Berichte von ehemaligen Schülern, bei denen sich ein "System Gerold Becker" abzeichnet, das ekelhaft ist: Es scheint üblich gewesen zu sein, dass sich Lehrer von ihren Schülern befriedigen ließen - teils vor den Augen Dritter.
Nur werden diese Verbrechen nirgendwo verhandelt oder gesühnt werden können. Da mag Margarita Kaufmann, die heutige Leiterin und kompromisslose Aufklärerin, noch so fleißig die erschütternden Erinnerungen Ehemaliger sammeln: Die Herren Becker, schwer krank, und Jürgen K., pensioniert, sitzen zu Hause und können nicht mehr belangt werden - weil ihre Taten verjährt sind. Dennoch meinen manche an der Odenwaldschule, man dürfe die Jubiläumsfestlichkeiten nicht absagen. "Das können wir den Altschülern nicht antun", sagte jemand aus der Schulleitung SPIEGEL ONLINE, "die sind schon so lange eingeladen".
Die Odenwaldschule will nicht nur feiern, sondern auch erinnern und debattieren. Am kommenden Freitag gibt es eine Podiumsdiskussion über den Missbrauch, unter anderem mit Amelie Fried. Im Juli wird ein Tag der Jubiläumswoche dem Thema gewidmet. Das ist richtig - und dennoch viel zu wenig.
Die Odenwaldschule muss sich ändern, sonst ist sie nicht mehr tragbar. Sie und die Reformpädagogik brauchen einen öffentlichen Prozess. Die bohrenden Fragen, die viele (Ex-)Schüler, Lehrer und nicht zuletzt Eltern bedrücken und die halbe Republik alarmiert haben: Sie müssen erörtert werden. Es braucht dazu, wenn es schon keine Gerichtsverhandlung geben wird, ein öffentliches Tribunal.
Ein Heiligenschein steht der Reformpädagogik nicht zu
Abgerechnet werden muss mit Gerold Becker und allen Lehrern, die sich im Odenwald schuldig gemacht haben. Die alten Reformpädagogen Hermann Lietz, Gustav Wyneken, Rudolf Steiner, Peter Petersen und Maria Montessori gehören ebenfalls auf die "Anklagebank" - denn sie haben teilweise absurde Vorstellungen vom Umgang mit Kindern gepredigt.
Man sollte das im Lichte der Odenwälder Enthüllungen diskutieren, um der Reformpädagogik endlich ihren Heiligenschein zu nehmen. Ist es nicht so, dass Wyneken ein bekennender Päderast war? Ist es etwa falsch, dass Lietz, Petersen und Steiner vor antisemitischen Äußerungen nicht zurückschreckten? Will jemand bestreiten, dass Maria Montessori viele Jahre lang eng mit dem faschistischen Regime Mussolinis kooperiert hat?
Aber sind deswegen etwa die zusammengenommen rund 700 Reformschulen in Deutschland faschistisch, päderastisch oder Folterkeller? Oder haben sie mit ihrer "Pädagogik vom Kinde aus" einen wichtigen Entwicklungsschritt gemacht, auf den die staatliche Schule noch wartet?
Die Chance eines Tribunals ist nicht nur, dass man Taten erörtert. Sie besteht auch darin, dass man Beschuldigte verteidigen kann. Dass man Fakten als Fakten erkennen und Hirngespinste als solche entlarven kann. Und haben nicht auch die Lehrer der heutigen Odenwaldschule das Recht und die Pflicht zu zeigen, dass Knabenliebe in Ober-Hambach definitiv nicht (mehr) auf dem Wochenplan steht?
Gegenwärtig ist das unmöglich. Zeitungen und Ex-Schüler enthüllen scheibchenweise das System Becker. Wie in Kafkas Prozess stehen brutale Details und hehre Ideen in krassem Widerspruch. Hier der Satz des Odenwald-Gründers Paul Geheeb: "Werde, der du bist". Dort der infame Griff zwischen die Beine Jugendlicher, die fern der Heimat und wehrlos sind.
Endlich echte Aufklärung - vielleicht sogar Versöhnung?
Aber es gibt keine formelle Anklage, keine haftbaren Täter, keine Beweiserhebung, keine Zeugen und keine Gutachter. Derzeit wird nicht nur eine Schule im Odenwald - zu Recht - in Frage gestellt, sondern es gerät auch die Rechtsstaatlichkeit ins Zwielicht.
Das ist der Boden, auf dem peinliche Fragen aufkommen:
- Wieso hat die geistige Elite Deutschlands, die ihre Kinder an die Schule schickte, nichts gesehen oder gar weggesehen?
- Hat der Missbrauch Schüler aus dem Odenwald in den Selbstmord getrieben?
- Ist die Reformpädagogik mitverantwortlich für übergriffige Lehrer?
- Wieso haben Altschüler, die heute Regisseure, Talkmaster und Lektoren sind, jahrzehntelang zu Strip-Poker und gemeinsamem Duschen geschwiegen?
Ein Tribunal wird veranstaltet, wenn es eine formelle Gerichtsbarkeit für konkrete Taten nicht (oder nicht mehr) gibt - und deswegen Grundrechte in Verruf kommen. Im Odenwald geschah kein Mord. Aber es sieht nach einem systematischen Missbrauch von Kindern aus, ausgeführt unter dem Prinzip einer vermeintlich höheren Pädagogik. Ein Tribunal, besetzt mit prominenten gesellschaftlichen Vertretern und verhandelt auf der Basis grundlegender Prozessregeln, könnte so etwas wie Aufklärung bringen - und vielleicht auch Versöhnung.
Vorbilder sind das berühmte Londoner Russell-Tribunal über die Kriegsverbrechen in Vietnam von 1966 oder das - nie verwirklichte - Tribunal gegen die SED-Staatskriminalität. Idee war es damals, den "Versuch einer öffentlichen, gesellschaftlichen Aufklärung über Recht und Unrecht" zu unternehmen, wie Wolfgang Ullmann im Herbst 1991 schrieb. Und zwar, indem man "vorurteilslos bilanziert und Wege zur Neukonsolidierung öffentlicher Autorität sucht". Ein "Tribunal für die Aufklärung der Verbrechen an der Odenwaldschule unter den Namen der Reformpädagogik" braucht prominente Vorsitzende und Ankläger - zum Beispiel den ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog und den renommierten Züricher Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers, der seit bald 20 Jahren für einen kritischen Blick auf die Reformpädagogik wirbt.
Die Opfer, die bislang anonym Anrufe tätigen und Briefe schreiben müssen, bekämen ein Forum für ihre Erlebnisse. Die Täter erhielten die Gelegenheit zu verstehen, was sie angerichtet haben. Und für die Odenwaldschule wäre ein solches Tribunal ein notwendiger Test: um zu prüfen, ob sie als Schule ihre Vergangenheit überhaupt noch klären kann.
Oder ob man sie schlicht zusperren sollte.
Autor Christian Füller ist "taz"-Mitarbeiter und Buchautor; zuletzt erschien von ihm das Buch "Ausweg Privatschulen? Was sie besser können, woran sie scheitern"