Tod einer Grundschülerin Was wirklich gegen Mobbing hilft
Der Festsaal eines Seniorenheims in Berlin-Reinickendorf. Carsten Stahl hat sich an diesem Abend vor Eltern der Hausotter-Grundschule aufgebaut und brüllt Sätze wie diese ins Publikum: "Der Fisch stinkt vom Kopf. Wie viele Menschen müssen sich noch wegen Mobbing das Leben nehmen? Wann kapieren unsere Politiker und Schulverantwortlichen endlich, dass hier etwas passieren muss?"
Carsten Stahl ist ehemaliger RTL2-Privatdetektiv und der wohl lauteste Anti-Mobbing-Aktivist des Landes. Nun hat er sich eines Falls angenommen, der bundesweit für Betroffenheit sorgt: Eine elfjährige Schülerin aus dem Berliner Stadtteil Reinickendorf starb Ende Januar nach einem Suizidversuch. Sie soll in der Schule unter Mobbing gelitten haben.
Woran sie genau starb und warum sie sich selbst verletzte, ist noch unklar. Doch Mitschüler, Eltern, Lehrer und Schulleitung müssen nun die tragische Nachricht verarbeiten und mit der Trauer und Wut umgehen, die sie ausgelöst hat. Nach den Winterferien hat die Grundschule in dieser Woche wieder geöffnet. Sie hat einen Trauerraum eingerichtet und macht Schülern Angebote, die dem regulären Unterricht noch nicht wieder folgen können.
Eine vertrauensvolle Aufarbeitung dürfte der Schule jedoch schwerfallen, denn sie steht weiter im Rampenlicht. Aktivist Carsten Stahl hat den Fall öffentlich gemacht und sorgt mit dafür, dass er es bleibt: Er hat eine Mahnwache und den Elternabend organisiert, auf dem er am Freitag eine Petition herumreichte. Eine Demo soll folgen.
Das Ziel - mehr Präventionsmaßnahmen, besser ausgebildete Lehrer, aufmerksamere Behörden - klingt gut, auch wenn Stahl sich und seine Anti-Mobbing-Seminare nebenbei offensiv selbst vermarktet. Auch das Medieninteresse ist verständlich: Mobbing ist an Schulen ein Thema, überall in Deutschland.
Doch dient so viel Trubel dem Anliegen, Mobbing konkret aufzuklären und einzudämmen? Antworten auf die wichtigsten Fragen - und ein Beispiel aus der Praxis:
Was brauchen Schulen wirklich?
Wenn ausgeprägtes Mobbing an einer Schule passiere, sei ein geschützter Raum sehr wichtig, sagt Erziehungswissenschaftler Wilfried Schubarth von der Universität Potsdam. "Jeder muss angstfrei über seine Rolle reden können. Wenn Schüler oder Lehrer fürchten müssen, dass etwas von dem, was sie gesagt haben, an die Medien durchgestochen wird, blockiert das die Erziehungs- und Aufklärungsarbeit an den Schulen."
Täter müssten zwar mit ihrer Tat konfrontiert werden. Aber es gehe nicht darum, sie stumpf anzuklagen. "Auch sie müssen in ihrer Persönlichkeit gestärkt werden, damit sie künftig andere Wege suchen, um Anerkennung zu erlangen", sagt Schubarth. Sonst sei der nächste Mobbingfall vorprogrammiert.
Was steckt hinter Mobbing?
"Bei Mobbing geht es um Macht - und darum, den eigenen sozialen Status zu verbessern", sagt Psychologin Mechthild Schäfer von der Ludwig-Maximilians-Universität München, die seit 20 Jahren zum Thema Mobbing forscht. "Wir möchten alle gut dastehen und gesehen werden."
Es sei normal, dass in einer beliebigen größeren Gruppe ungefähr ein Drittel der Menschen danach strebe, die anderen zu dominieren. Die Mobbingtäter nähmen dabei zwar in Kauf, dass sie andere seelisch tief verletzen könnten. Das sei jedoch nicht ihr primäres Ziel, sagt Schäfer. Wer gegen Mobbing vorgehen möchte, sollte die Täter deshalb in seine Arbeit mit einbeziehen, statt ihnen pure Bösartigkeit zu unterstellen.
Was können Eltern tun?
Kurz gesagt: Wenn niemand applaudiert, macht Mobbing keinen Sinn. "In einer Klasse nimmt jeder eine Rolle ein", sagt Ludwig Bilz, Professor für Pädagogische Psychologie und Mobbingforscher an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Täter und Opfer machen nur eine Minderheit aus. "Man muss es schaffen, die große Gruppe derer zu aktivieren, die nicht einschreiten, weil sie selbst Angst haben, zum Opfer zu werden."
Die Eltern zu mobilisieren, wie es Carsten Stahl derzeit in Berlin tut, ist dabei nicht unbedingt hilfreich. "Ich warne Eltern davor, selbst aktiv zu werden und den Täter oder dessen Eltern zu kontaktieren", sagt Bilz. Das mache das Mobbing oft nur schlimmer, weil es die Täter bestärke, indem es ihnen mehr Aufmerksamkeit verschaffe - und das Opfer abwerte.
Was Eltern tun können: Lehrer und womöglich auch die Schulleitung einschalten. Denn die, darin sind sich Forscher einig, könnten tatsächlich auf ein besseres soziales Miteinander in der Klasse hinwirken, in dem Mobbing weniger Raum bekommt.
Wann greifen Lehrer ein?
Bilz und seine Kollegen haben eine Studie durchgeführt, für die sie vor vier Jahren mehr als 2000 Schüler und rund 550 Lehrer in Sachsen befragten. Ein Ergebnis: Lehrer sind schlecht in der Lage, eigenständig zu erkennen, wer in ihrer Klasse unter Mobbing leidet. "Werden Lehrkräfte gebeten, konkret diejenigen Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse zu benennen, die ihrer Meinung nach Erfahrungen als Opfer oder Täter machen, erweist sich ihr Urteil als wenig genau", schreiben die Autoren.
Jeden dritten Mobbingfall, bei dem die Lehrer nach Angaben ihrer Schüler anwesend waren, bemerkten sie gar nicht. Bei einem Drittel der Fälle, die sie mitbekamen, schauten sie tatenlos zu, taten ihn ab oder beachteten ihn nicht.
Wie lässt sich Mobbing eindämmen?
Wer Mobbing in der Schule eindämmen will, muss also nicht nur mit den Schülern, sondern auch mit ihren Lehrern arbeiten. "Schulen müssen gemeinsame Regeln und rote Linien definieren, die niemand überschreiten darf", sagt Mobbingforscherin Schäfer.
Alle müssten es schaffen, sich darauf zu verständigen, dass kein Schüler, kein Lehrer und auch kein Schulleiter jemand anderen degradieren dürfe - und dass jeder Einzelne einschreiten müsse, wenn es doch passiert, sagt Schäfer.
Das ist oft schwerer, als es klingen mag, zumal Lehrer sich mit dem Thema Gewalt und Mobbing in ihrer Ausbildung an deutschen Hochschulen üblicherweise nicht auseinandersetzen müssen, wenn sie das nicht wollen.
Bundesweit gibt es zwar zahlreiche Projekte, Vereine und Organisationen, die sich gegen Mobbing einsetzen. Doch wie wirksam ihr jeweiliger Ansatz ist und wie viele Schulen sich dort Hilfe holen, wertet niemand systematisch aus.
Wie geht Aufklärung konkret?
Sozialarbeiter Jürgen Schmitt, 63, hat mehr als 30 Jahre lang an einer Schule in Baden-Württemberg gearbeitet. Nun bietet er freiberuflich Trainings und Fortbildungen in Konfliktmanagement an.
Wenn er einen Mobbingfall lösen soll, setzt er gemeinsam mit der Schule einen Prozess in Gang, der oft Wochen dauert. Er arbeitet dabei nicht nur mit den Betroffenen und deren Eltern, sondern mit der ganzen Klasse.
Zunächst spricht er mit allen Mitschülern über demokratische Werte und Normen und darüber, dass jeder Mensch ein Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit hat. "In dieser Phase geht es nicht darum, Schuldige zu finden und Täter in die Ecke zu drängen", sagt Schmitt. Wichtig sei, das Mitgefühl der anderen anzuregen.
Schmitt lässt die Klasse sogenannte Menschenrechtsbeobachter wählen. Die sollen einer Vertrauensperson respektloses Verhalten von Mitschülern berichten, Beleidigungen im Klassenchat zum Beispiel. Allerdings dürfen sie dabei keine Namen nennen. Schließlich soll die Klasse sie als neutrale Beobachter anerkennen und nicht für Denunzianten halten.
Erst wenn Schüler auch danach nicht aufhören, andere zu verletzen, konfrontiert Schmitt sie direkt mit den Tatvorwürfen - unter vier Augen. Am Ende dieses Prozesses steht häufig ein Tatausgleich: Dann stellt sich ein Beschuldigter zum Beispiel vor die Klasse und liest einen Entschuldigungsbrief vor. Das könne Verletzungen wiedergutmachen und den Klassenzusammenhalt stärken.
"Wer Kindern und Jugendlichen, die von Mobbing betroffen sind, wirklich helfen will, braucht sehr viel Zeit", sagt Schmitt. Lehrkräfte könnten das in der Regel nicht ohne Hilfe leisten.