Nach dem Pisa-Schock Zehn Jahre Wirrwarr

Grundschüler (Archiv): Das deutsche Bildungssystem produziert zu viele Risikoschüler
Foto: dapdAm Abend bevor Goethes Erben zu Bildungsverlierern wurden, versammelte ein gewisser Andreas Schleicher drei Dutzend Journalisten in Berlin zu einem Seminar in empirischer Bildungsforschung. Gebannt folgten sie dem Herrn mit dem rotmelierten Schnäuzer, der das "Programme for International Students Assessment", koordinierte, kurz: Pisa.
Grafiken und Tabellen zeigten mit mathematischer Präzision den Abstieg einer Kulturnation. Das Leitbild der Deutschen bekam einen neuen Namen: Der Risikoschüler - kann Texte entziffern, versteht aber nicht, was drin steht.
Es war der 3. Dezember 2001. Am Tag darauf stellte die Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) die Pisa-Studie vor, einen Test, der Leistungen 15-jähriger Schüler aus aller Welt vergleicht. Die Neuntklässler im Herzen Europas, die Deutschen, schnitten miserabel ab: Fast jeder Vierte 15-Jährige kann nicht sinnvoll lesen; der Abstand zwischen den Leistungen der Schulen ist nirgendwo größer als in Deutschland, die Schere zwischen guten und schlechten Schülern einer Demokratie nicht würdig.
Für die Deutschen war Pisa fortan nicht mehr eine Stadt in Italien, sondern eine Studie, die sie auf Platz 22 von 32 getesteten Nationen verbannt hatte.

Zehn Jahre Bildungsstudie: Wir sind Pisa
Die Kultusminister schafften jedoch, was ihnen kaum jemand zugetraut hätte. Sie, die man bis dahin ungerügt als Landschildkröten verspotten konnte, ergriffen Notmaßnahmen, sofort. Noch bevor die Pisa-Nachricht komplett verstanden worden war, fasste die Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK) im wesentlichen drei Beschlüsse:
- Die 16 Minister einigten sich auf sieben sogenannte Handlungsfelder - von Kindergarten bis Migranten, von Sprachtests bis Unterrichtsqualität.
- Sie kündigten an, ganz fix die Lehrerbildung zu verbessern.
- Sie verbaten sich kategorisch, über Schulformen zu diskutieren. Die weltweit einmalige - von Österreich abgesehen - Aufteilung junger Bürger im Alter von zehn Jahren auf drei verschieden gute Schularten, sie durfte kein Grund für das verheerende deutsche Pisa-Ergebnis sein.
Das Land akzeptierte das Tabu weitgehend. Noch immer müssen Teilnehmer von Polit-Talkshows im Abendprogramm damit rechnen, dass man sie auffordert: Diskutieren Sie bitte nicht über die Schulformen!
Es fehlt an Sprachkompetenz - also streichen wir Fördergeld
An die sieben Handlungsfelder erinnert sich hingegen mittlerweile kaum noch jemand. Sie betrafen zwar irgendwie die richtigen Punkte: Kindertagesstätten etwa sollten zu Bildungseinrichtungen werden, Migranten besser im Sprachenlernen gefördert werden und so weiter. Allein, das Steuerungswissen, das Pisa angeblich geliefert hatte, wurde von den 16 Kultusministern sehr unterschiedlich interpretiert. Die Sprachtests zum Beispiel hießen immer anders - "Bärenstark", "Delfin" oder "Deutsch+" - und untersuchten jeweils andere Altersstufen von Kindern.
Nur eines war gleich: Die Sprachstandserhebungen waren so niederschmetternd, dass die bereitgestellten Millionen für die frühe Sprachförderung nicht ausreichten. Die Minister passten die Lerngelegenheiten also sofort den Budgets an: Nur ein Bruchteil der Sprachlosen bekam effizientes Sprachtraining.
Ähnlich lief es mit der Lehrerbildung. Nach Pisa setzten die Schulminister auf ein runderneuertes Lehrerstudium. "Dann haben wir ja schon in 30 Jahren bessere Pisa-Ergebnisse", frotzelte Andreas Schleicher. Die Kultusminister rächten sich und erklärten den weltweit geachteten "Mr. Pisa" zur Persona non grata - Schleicher durfte in seinem Heimatland eine Zeitlang keine Pisa-Studie mehr vorstellen.
Nachhilfe-Milliarden, Kontroll-Hysterie, Privatschul-Boom - Wie Eltern auf Pisa reagieren
Schleicher ist inzwischen rehabilitiert. Alle seine Vorhersagen trafen ein: Die Lehrerbildung ist zehn Jahre nach Pisa so wirr, dass auch Unionsbildungsexperten sie auf Podien als chaotisch bezeichnen und bereit sind, den Föderalismus in Frage zu stellen.
Die Pisa-Ergebnisse haben sich zwar verbessert - aber nur in einzelnen Ländern und meist an den Gymnasien. Da, wo das Problem für eine demokratische Gesellschaft im 21. Jahrhundert sitzt, in den Haupt- und Ghettoschulen mit bis zu 90 Prozent Risikoschülern, geht es nur sehr zäh voran.
Das Bürgertum hingegen hat seine Lektion aus Pisa gelernt: Es investiert Milliarden in Nachhilfe, es überwacht mehr oder weniger hysterisch den Unterrichtsbetrieb an Regelschulen - und notfalls flieht es aus dem staatlichen Schulchaos. Die Bereitschaft, Kinder auf freie, konfessionelle, demokratische, also auf private Schulen zu schicken, ist dramatisch gestiegen. Sogar Eltern mit Hauptschulaschluss denken heute über Prvatschulen nach - vor dem Pisa-Schock undenkbar.
Jeder fünfte Schüler ist ein Risikoschüler - noch immer
Im Land hat derweil fröhlicher Fatalismus Einzug gehalten. Jede Pisa-Folgestudie bringt stets die gleichen Ergebnisse: Prägendes Merkmal der deutschen Schule ist erstens, dass sie wenig leistungsfähig ist - also zu viele Risikoschüler produziert, deutschlandweit immer noch 20,9 Prozent. Und dass sie zweitens ungerecht ist: Weil sie - bei gleicher Intelligenz - den Kindern gebildeter und reicher Eltern bessere Chancen einräumt.

Schülerlotsen: Die deutschen Pisa-Experten
Ist das zersplitterte Schulsystem seit Pisa einfacher geworden? Nein. Zwar haben die Länder - außer Hessen und Bayern - begonnen, die komplizierte Schulstruktur auf zwei Formen zu reduzieren. Doch freilich hat der systemimmanente Chaosfaktor der KMK nichts vereinfacht. Es regiert die neue Unübersichtlichkeit. Inzwischen gibt es ein Dutzend weiterführender Schulen: Gesamtschule, Gemeinschaftsschule, (integrierte) Sekundarschule, Stadtteilschule, Oberschule, Mittelschule, Regelschule, Realschule, Realschule-plus, Werkrealschule, Hauptschule und Gymnasium.
Das deutsche Bildungsschiff ist steuerungslos. Auf der Brücke der Titanic stehen 16 Kapitäne und wollen alle in eine andere Richtung. Derweil spitzt sich demografisch wie ökonomisch die Lage zu. Deutschlands Schulen sterben, in den großen Flächenländern stehen Tausende Hauptschulen vor dem Aus - weil es nicht mehr genug Schüler für drei Schularten gibt.
Am meisten leidet die Wirtschaft. Sie, die jahrelang die Kultusminister vor sich hinwursteln ließ, steht vor einem nie gekannten Fachkräftemangel. Nicht mehr nur Ingenieure oder Ärzte fehlen, inzwischen gehen sogar die Auszubildenden aus. Selbst der Pisa-Dauersieger Bayern produziert zu viele Risikoschüler.
Reformen von unten - Bürgermeister, Lehrer, Eltern basteln eigene Schulen
Offenbarungseid der Kultusminister: Weil sie es nicht schaffen, Bildungsarmut zu bekämpfen, basteln sich nun überall im Land Bürgermeister, Landräte und Schulleiter eigene Lösungen. Die Prinzipien der neuen Schulen sind fast immer die gleichen - es sind Pisa-Lektionen: Die Schule braucht eine andere Lernkultur. Und: Kein Kind soll zurückbleiben.
In Jesteburg, Niedersachsen, zum Beispiel fordern Bürgermeister, Schulleiterin und ein Trio aus Grünen, SPD, CDU eine Schule, die auch das Abitur anbietet, eine Art Gesamtschule also. Der Kultusminister Niedersachsens tritt dort nur in einer Rolle auf: als Verhinderer. Bernd Althusmann (CDU) hat die Schule erst nicht genehmigt, weil sie zu modern ist und den falschen Namen trägt. Als Oberschule mit Haupt- und Realschulzweig hat er sie nun zugelassen.
Das Abitur ist die treibende Kraft für Schulreformen von unten. Genauer: Schulen, die auch das Abitur anbieten. So gibt es selbst in Bayern Rebellengemeinden wie Denkendorf und Kipfenberg, die eine "Schule für alle" fordern - weil sonst die Schule aus ihrem Ort verschwindet.
Das ist das neue Selbstbewusstsein nach Pisa. Wenn die oben nicht mehr können, dann machen die da unten ihre Schule eben selber. Steuerungswissen aus Pisa brauchen sie dazu nicht.