NRW-Bildungspolitik Rot-grünes Schulreförmchen empört Eltern und Lehrer

Hannelore Kraft (l.) und Sylvia Löhrmann: "Wir entwickeln das von unten"
Foto: ddpDie tiefen Wunden sind noch immer nicht richtig verheilt - dabei ist der Streit schon mehr als 30 Jahre her. 1976 veröffentlichte die SPD-Regierung in Nordrhein-Westfalen einen Gesetzentwurf für die "kooperative Schule". Hauptschulen im Land sollten mit mindestens einer weiteren Schule vereinigt werden - die Realschule musste, das Gymnasium sollte eingegliedert werden.
Die Aufregung war groß, waren bis dahin noch recht neu. Die Opposition warnte vor dem großen Bildungsverfall. Eltern protestierten und zettelten ein Volksbegehren gegen die "Koop-Schule" an, unterstützt von der CDU sammelten sie dreieinhalb Millionen Unterschriften. Das Volksbegehren von 1978 ist bisher das einzig erfolgreiche in NRW. Die SPD war blamiert.
eine Minderheitsregierung bilden
Dennoch unternehmen die Sozialdemokraten an Rhein und Ruhr jetzt einen neuen Reformversuch. In der kommenden Woche soll SPD-Landeschefin Hannelore Kraft zur Ministerpräsidentin gewählt werden und mit den Grünen . Eines der ersten rot-grünen Vorhaben: die Einführung von Gemeinschaftsschulen.
Doch die große Reform kommt nun mit geringerer Wucht, als es die wahlkämpferischen Ambitionen von Sozialdemokraten und Grünen nahelegten. "Wir brauchen schleunigst ein durchlässigeres Schulsystem", hatte Kraft stets betont und sich ebenso für Gemeinschaftsschulen stark gemacht wie Grünen-Fraktionschefin Sylvia Löhrmann, die Bildungsministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin werden soll.
Bloß kein "Schulkrieg" - aber auch nur ein bisschen Frieden
Am Mittwoch haben SPD und Grüne ihren Koalitionsvertrag vorgestellt. Seitdem ist klar, dass es keinen schnellen, radikalen Umbruch geben wird, weg von der traditionellen Trias Gymnasien, Real- und Hauptschulen und hin zur Gemeinschaftsschule. Der Systemwechsel soll weder zentral gesteuert noch flächendeckend stattfinden. Eltern, Lehrer und Kommunen sollen mitentscheiden, wo es Gemeinschaftsschulen gibt und wo nicht - eine Schulreform light.
Und dennoch formiert sich bereits der Protest.
Vorneweg gehen Lehrer, die einen bildungspolitischen Flickenteppich befürchten, nach dem Motto: Jede Kommune macht, was sie will. "Ein drohender Schulkrieg scheint vorerst abgewendet", frohlockt zwar der Verband Lehrer NRW, der die Interessen vor allem von Real- und Hauptschulpädagogen vertritt. Zugleich erklärte die Verbandsvorsitzende Brigitte Balbach aber: "Dass nun die Bildungspolitik quasi an die Kommunen delegiert wird, öffnet der Beliebigkeit Tür und Tor."
Der Philologen-Verband NRW warnt gar vor einem "Kahlschlag in der Schullandschaft", der Unruhe und allgemeine Verunsicherung hinterlasse. "Das Gespenst der Angst" gehe an den Schulen des Landes umher. Keine Einrichtung könne sicher sein, nicht von der Auflösung oder der Zusammenlegung mit anderen Schulformen betroffen zu sein, heißt es als Reaktion auf die rot-grünen Pläne, die aber bei anderen Lehrerverbänden wie der GEW und dem VBE Unterstützung finden.
Schul-Evolution statt Revolution
Der Koalitionsvertrag gibt das Ziel vor, "in den nächsten fünf Jahren mindestens 30 Prozent der allgemeinbildenden Schulen in der Sekundarstufe I zu Gemeinschaftsschulen umzuwandeln". In diesen Schulen sollen in den Klassen fünf und sechs alle Schüler zusammen lernen. Von der siebten Klasse an können dann die Gemeinschaftsschulen selbst entscheiden, ob sie das gemeinsame Lernen bis einschließlich Klasse zehn fortsetzen oder Schüler wieder nach Leistung aufteilen.
Klar ist: SPD und Grüne wollen keinen Großkonflikt mit den anderen Parteien riskieren und sich ebenso wenig offen mit rebellischen Eltern anlegen. Daher verzichten sie darauf, den Umbau aller Schulen zu Gemeinschaftsschulen zu erzwingen. Das wäre angesichts der Mehrheitsverhältnisse auch unrealistisch. Ebenso verzichten sie auf das längere gemeinsame Lernen für alle Schüler des Landes bis einschließlich Klasse fünf (wie es die Jamaika-Koalition im Saarland plant) oder bis Klasse sechs, wie es Schwarz-Grün in Hamburg gegen erhebliche Widerstände durchfechten will.
In NRW geht die neue Regierung einen anderen, einen schonenderen und flexibleren Weg - und überlässt die Wahl der Art der Schulen den Städten und Gemeinden. Diese Taktik wurzelt nicht allein in der Überzeugung, dass vor Ort am besten entschieden werden könne, welche Schulen man braucht. Dahinter steckt viel Kalkül. Es ist ein evolutionärer, kein revolutionärer Ansatz und hat mit der demografischen Entwicklung im bevölkerungsreichsten Bundesland zu tun.
Denn in NRW werden die Schülerzahlen in den nächsten Jahren so rapide sinken, dass das dreigliedrige Schulsystem gefährdet ist: In vielen Regionen werden Schulen zusammengelegt werden müssen, wenn man den Kindern und Jugendliche nicht schier endlose Schulwege zumuten will. Ein jeweils eigenständiges Gymnasium, eine Real- und eine Hauptschule werden in etlichen Kommunen nicht überlebensfähig sein - eine Gemeinschaftsschule schon.
"Ein bisschen Gymnasium gibt es nicht"
Das kommt den rot-grünen Plänen zupass. Und auch deshalb stärken sie die lokale Verantwortung: "Wir entwickeln das von unten, sonst bekommen wir einen Schulkrieg", sagte die designierte Bildungsministerin Löhrmann im Wahlkampf.
Die Kommunen entscheiden über die Schulstruktur? Davor warnt Brigitte Balbach von Lehrer NRW: "Die Städte und Gemeinden werden Schulpolitik nach Kassenlage machen." Entscheidungen über Schulzusammenlegungen würden dann von knappen Finanzen bestimmt und nicht von qualitativen Erwägungen.
Auch Elternverbände laufen gegen die Gemeinschaftsschule Sturm. "Ein bisschen Gymnasium gibt es nicht", sagt die Landeselternschaft der Gymnasien in NRW und spricht gar von einer "Amputation der Gymnasien". Dort seien Eltern, Lehrer und Schüler zutiefst verunsichert. Nach den Reformen der vergangenen Jahre müssten die Schulen jetzt von Veränderungen verschont werden; man brauche eine Zeit der "produktiven Ruhe". Auch der Elternverein NRW ist empört und befürchtet einen Qualitätsverlust des Unterrichts. Das Konzept der Gemeinschaftsschule hatte der Verein bereits im vergangenen Jahr als "dümmliches Gerede" der Grünen abgetan.
Der Städte- und Gemeindebund NRW hält sich vorerst noch zurück. "Ein solch heißes Eisen fassen wir nicht überstürzt an", teilte ein Sprecher mit; bei einer kommenden Tagung werde das Schulgremium eine Stellungnahme erarbeiten.
Dagegen schaltet Karl-Josef Laumann, frisch gewählter CDU-Fraktionschef im Landtag, bereits auf Attacke. Seine Partei werde alle verfassungsrechtlich möglichen Schritte gegen die Schulreform unternehmen. Laumann spielt an auf ein Urteil des Verfassungsgerichtshofes Nordrhein-Westfalens aus dem Jahr 1983. Danach ist es nicht mit der Landesverfassung vereinbar, Hauptschulen aufzulösen und sie in Integrierten Gesamtschulen einzubetten.
Ärger droht auch bei der Studiengebühren-Abschaffung
Für Konfliktpotential in der Schulpolitik sorgen auch weitere Punkte im Koalitionsvertrag: Die umstrittenen Kopfnoten für das Betragen von Schülern wollen SPD und Grüne wieder abschaffen sowie die freie Wahl der Grundschule durch Eltern einschränken und Grundschulbezirke wieder einführen. Bei der Entscheidung für die weiterführende Schule wollen sie dem Elternwillen dagegen Vorrang gewähren; es sollen nicht länger die Lehrer beschließen, auf welche Schule ein Kind nach der vierten Klasse geht. Geplant ist auch ein neues Arbeitszeitmodell für Lehrer - was stets für Unruhe in den Kollegien sorgt.
Auch in der Hochschulpolitik könnte es Ärger geben. SPD und Grüne haben vereinbart, die Studiengebühren abzuschaffen und das entsprechende Gesetz "noch in diesem Jahr zu verabschieden", wie es im Koalitionsvertrag heißt. Das könnte aber bedeuten, dass die Campusmaut bis Beginn des Wintersemesters 2011/12 bestehen bleibt, also noch gut ein Jahr. Der Linken geht es nicht schnell genug. Sie spricht von einem "Studiengebühren-Verlängerungsgesetz" und fordert von SPD und Grüne, die Beiträge sofort zu stoppen.
Die rot-grüne Minderheitsregierung wird ganz besonders bei diesem Vorhaben auf die eine zur Mehrheit fehlende Stimme aus dem Lager der Linkspartei angewiesen sein. Denn CDU und FDP hatten die Studiengebühren vor kurzem noch selbst eingeführt und werden kaum für ihre Abschaffung stimmen.
Rot-Grün will dafür sorgen, dass den Hochschulen die ausbleibenden Einnahmen aus Studiengebühren ersetzt werden. Das wird der klammen Regierung schwerfallen - es geht immerhin um rund 260 Millionen Euro jährlich. An den Hochschulen wachsen die Sorgen, dass sie bald mit kleineren Etats arbeiten und viele aus Studiengebühren finanzierte Angebote streichen müssen.
Bei so viel Zündstoff möchte Rot-Grün dem Ärger vorbeugen. Die baldige Schulministerin Löhrmann hat den anderen Parteien ein Angebot unterbreitet: Man sollte die Schulpolitik besser aus dem Parteiengezänk der kommenden Wochen herauszuhalten. Es wird wohl kaum jemand auf ihren Vorschlag eingehen.