Odenwaldschule-Report "Ein Nest von Pädophilen"

Sexueller Missbrauch über Jahrzehnte durch pädophile Lehrer, die sich "die Klinke in die Hand gaben" - zwei Juristinnen legen den Blick frei auf finstere Abgründe im Odenwald-Internat. Ihr Bericht wird der einstigen Vorzeigeschule nicht den ersehnten Schlussstrich bringen.
Odenwaldschule in Heppenheim: "System der Zugriffsrechte auf Kinder und Jugendliche"

Odenwaldschule in Heppenheim: "System der Zugriffsrechte auf Kinder und Jugendliche"

Foto: Marius Becker/ dpa

an der Odenwaldschule

Brigitte Tilmann und Claudia Burgsmüller wollten nicht nur Zahlen und Fakten veröffentlichen. Das wäre den beiden Juristinnen, die die Missbrauchsfälle untersucht haben, zu wenig gewesen. Sie wollten in ihrem Abschlussbericht auch den Zeitgeist dokumentieren, der herrschte, als an der Reformschule Kinder misshandelt wurden. Und alle wegsahen.

Da war diese Begebenheit 1968. Ein Jugendlicher meldete offenbar der Schule Missbrauch durch Lehrer. Der damalige Schulleiter Walter Schäfer schrieb den Erinnerungen eines Schülers zufolge daraufhin den Eltern, man wolle den beschuldigten Lehrer "nicht vernichten und auch die Schule nicht in Schwierigkeiten bringen". Worauf der Vater des Jugendlichen in einem Brief vom 8. Oktober 1968 antwortete:

"Passieren können solche und andere unangenehme Dinge schließlich in jeder Gemeinschaft und - so peinlich gerade dieser Fall sein mag - vielleicht ist es sogar positiv zu bewerten, daß junge Menschen, anstatt in einem gläsernen Turm zu sitzen, auch mit unangenehmen Situationen konfrontiert werden und Lernen auf saubere Art damit fertig zu werden.
Abschließend möchte ich (...) darauf hinweisen, daß m.E. das Verhalten (seines Sohnes) zu einem erheblichen Teil darauf zurückzuführen sein dürfte, daß ich ihn bereits vor einem Jahr rückhaltlos aufklärte und dabei auch nicht vor der Schilderung möglicher Einzelheiten, Krankheiten, Anomalitäten etc. zurückscheute".

Der Brief lässt erahnen, wie wenig Bewusstsein für das Unrecht herrschte. Wie gering das Mitgefühl für die Opfer war. Wie sehr die Sorge um das Ansehen der Odenwaldschule das Urteilsvermögen für Recht und Unrecht überlagerte. Tilmann und Burgsmüller dokumentieren den Brief genau deshalb.

Die Betroffenen erlebten eine Retraumatisierung

Der Bericht der Juristinnen ist der Schlusspunkt eines Jahres, in dem so viele verstörende Details, unfassbare Opferzahlen und groteske Verhaltensweisen von Pädagogen bekannt wurden, die bis dahin als Vordenker vereehrt wurden. 132 Schüler waren dem Bericht zufolge von 1965 bis 1998 Übergriffen von Lehrern ausgesetzt. Tilmann und Burgsmüller fragten die Ex-Schüler nach ihrem Geburtsjahr, den auf der Schule verbrachten Jahren, den Tatzeitraum, der Art des Missbrauchs.

Die meisten antworteten per E-Mail, und für einige war die ganze Untersuchung eine Qual. Die Juristinnen schreiben, Betroffene hätten in den Gesprächen eine Retraumatisierung durchlebt. Manche teilten nur kurz mit, was ihnen widerfahren war: "Wechselseitiges Befriedigen, manuell und auch oral. Eine Steigerung würde ich ausschließen, es lief ständig das gleiche Programm ab. Hoffe, das kann reichen." Der Weg zur eigenen Sprache sei für die Betroffenen schmerzhaft gewesen, heißt es im Bericht.

Gerold Becker

Die ehemaligen Schüler sprachen von Lehrern, die mit Jungs rauften, und sie dabei an den Genitalien berührten. Vom pädophilen Schulleiter , der mit Schulverweis und einem Elterngespräch drohte, als Schüler von sexuellen Übergriffen eines Lehrers berichteten. Von einem Auswahlsystem der Wohngruppen, bei dem Kinder einem Lehrer "regelrecht zugeführt" wurden. Von einem "extremen Alkohol- und Drogenkonsum".

"Es gab eine Art Staffelübergabe"

Die ehemaligen Schulleiter Walter Schäfer (1962 bis 1972), Gerold Becker (1972 bis 1985), Wolfgang Harder (1985 bis 1999) und Whitney Sterling (1999 bis 2007) werden von den Betroffenen als Mitwisser genannt - wobei Letzterem immerhin "eine halbwegs klare Haltung" zu Grenzverletzungen zuerkannt wird. Er hatte eine Lehrerin aus der Schule entfernt, die Schülern gegenüber eine zu große Nähe aufgebaut hatte. Die Autorinnen haben sich entschieden, die beschuldigten Lehrer als Täter zu bezeichnen - und sie nennen Namen.

Der im Juni verstorbene Becker wurde dem Bericht zufolge von 59 männlichen und drei weiblichen mutmaßlichen Opfern als Täter angeführt. 27 weitere soll er laut Aussagen der ehemaligen Schüler missbraucht haben. Burgsmüller nennt Becker "einen Weltmeister der Vernebelungsstrategie" und spricht gegenüber SPIEGEL ONLINE von einem "System der Zugriffsrechte auf Kinder und Jugendliche". Das für seine bekannte Eliteinternat sei "ein Nest von Pädophilen gewesen, die sich die Klinke in die Hand gegeben haben. Es gab eine Art Staffelübergabe", sagt sie.

Burgsmüller spricht von einem "unendlichen Unterfangen", die Taten aufzuarbeiten. Es sei fest davon auszugehen, dass sich viele Schüler noch nicht gemeldet hätten. Die Zahl der Opfer werde weiter steigen.

Tiefer Graben zwischen Opferverein und Schule

Der Vorsitzende des von Opfern gegründeten Vereins "Glasbrechen", Adrian Koefer, geht von "mindestens 400 bis 500 Betroffenen aus". Er kritisiert die Präsentation des Berichts. "Der Trägerverein und die Schulleitung haben es sich leichtgemacht", sagt er SPIEGEL ONLINE. An der Arbeit der beiden Juristinnen habe er nichts auszusetzen - aber die Vorstellung am Freitag sei eine "Show-Veranstaltung, die vor allem einem Zweck dient: Danach soll Ruhe im Karton sein".

Dazu wird es kaum kommen. Schon deshalb, weil eine entscheidende Frage noch nicht geklärt ist: Wie werden die Opfer entschädigt?

Die Kluft zwischen Opferverein und Schule ist groß. Ende November waren die Schulvorstände Johannes von Dohnanyi und Michael Frenzel zurückgetreten - sie waren mit dem Versprechen eines rigorosen Neuanfangs angetreten und wollten die Betroffenen noch in diesem Jahr finanziell entschädigen. Dem Opferverein "Glasbrechen" sollten 300.000 Euro überwiesen werden, 100.000 sofort, der Rest in Raten, ergänzt durch Spenden. Doch Trägerverein und Schulleitung lehnten eine schnelle Umsetzung wegen knapper Finanzen ab. Entschädigungszahlungen könnten nicht aus dem Budget geleistet werden. Dohnanyi damals zu seinem Rückzug: "Wir hoffen, der Schule mit unserer Entscheidung einen Weg eröffnet zu haben, die drängenden Probleme nun endlich konstruktiv und solidarisch anpacken zu können."

Das tat sie aus Sicht des Opfervereins nicht. Die Schule entschied, eine Stiftung zu gründen, die Spenden für Entschädigungszahlungen sammeln soll - was Koerfer "sehr skeptisch" betrachtet: "Ich will die Stiftung erst mal sehen." Ex-Vorstand Frenzel findet die Stiftung "ein Feigenblatt, um Zeit zu gewinnen", Opfer-Anwalt Thorsten Kahl spricht von "Wut und Enttäuschung".

Weitere Vorzeigeschule der Reformpädagogik in Bedrängnis

Die Odenwaldschule kommt nicht zur Ruhe, und damit wird auch die Reformpädagogik weiter kritisch debattiert. Zumal inzwischen auch eine andere Vorzeigeschule in Bedrängnis gerät - die renommierte Helene-Lange-Schule in Wiesbaden.

Eine Journalistin hat im Stadtarchiv kinderpornografische Fotos im Nachlass des Lehrers Hajo Weber gefunden, der im Jahr 2008 gestorben ist. Die Fotos wurden in den siebziger und achtziger Jahren aufgenommen. 1989 hatten Schüler der Schulleiterin Enja Riegel berichtet, sie seien von Weber missbraucht worden. Dieser wurde daraufhin suspendiert und in die Erwachsenenbildung abgeordnet.

Riegel ließ allerdings zu, dass er weiter an die Schule kam - zur Lehrerfortbildung. In einem Interview mit der "taz" sagte Riegel außerdem, Weber sei einmal für einen Tag zu einer Klasse an die Nordsee geschickt worden, "um eine Wattwanderung fotografisch zu dokumentieren". Er habe aber im Hotel geschlafen, nicht bei der Klasse.

Riegel gibt Versäumnisse zu. Sie habe nicht verhindert, dass Weber mit der Schule in Berührung blieb: "Wir waren alle, auch ich, zu naiv und zu schlecht informiert darüber, was Pädophilie bedeutet und wie ein Pädophiler vorgeht."

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