Odenwaldschule "So einen Tod kann man niemandem wünschen"

Odenwaldschule: Die Nachricht von Beckers Tod platzte in die Jubiläumsrede
Foto: Marius Becker/ dpaDas Haus, in dem Gerold Becker während seiner Zeit an der Odenwaldschule gelebt und in dem er immer wieder auch Schüler missbraucht hat, steht jedem offen. Innen erinnert nichts mehr an den früheren Schulleiter, der 1969 nach Ober-Hambach kam, die Schule seit 1972 leitete und 1985 verließ. Im Treppenhaus hängen Fotocollagen an den Wänden, die Bilder zeigen Jugendliche mit Bierflaschen in der Hand, bei Spaziergängen am Strand, Grimassen schneidend. Schüleralltag an der Odenwaldschule.
Dieser Alltag, meinen Ehemalige, würde nun hoffentlich einfacher und wieder ein bisschen normaler. Nun, da Gerold Becker, zugleich hochverehrter Pädagoge und pädophiler Täter, im Alter von 73 Jahren gestorben ist.
Die Nachricht erreichte die Odenwaldschule in der Nacht zu Freitag, verkündet wurde sie an diesem Freitagmittag. Im rot-weißen Zirkuszelt, wenige Meter von seinem ehemaligem Haus entfernt, verkündete Schulleiterin Margarita Kaufmann, dass Becker in der Nacht zu Donnerstag in Berlin gestorben sei.
Die Luft steht unter dem leuchtend roten Plastikgewölbe, die roten Stühle sind voll besetzt, als Kaufmann am Ende ihrer Rede den Tod Beckers bekanntgibt. Sie hatte überlegt, in welcher Form sie die Nachricht verkünden sollte - vor ihrer Ansprache anlässlich des 100-jährigen Jubiläums oder danach. Sie entschied sich schließlich, die Nachricht mit in die Rede einzubauen.
Angedacht war eine Gedenkminute für die mehr als 50 Missbrauchsopfer - Kaufmann schloss Becker schließlich mit ein, "aus menschlichem Respekt", wie sie sagte. Man gedachte nicht nur der Mädchen und Jungen, die Opfer sexueller Übergriffe durch Mitarbeiter der Schule wurden, sondern auch des Mannes, der im Mittelpunkt des Missbrauchsskandals stand.
Manche wollten bis zuletzt ihr Bild von Becker nicht revidieren
Becker war offenbar Teil und zugleich Kopf des perfiden Systems an der Odenwaldschule, in dem Lehrer Schüler missbrauchten und sich gegenseitig schützten. Ehemalige Schüler berichteten etwa, dass sich Lehrer von Schülern befriedigen ließen, teils vor den Augen Dritter. Becker soll Schüler und Schülerinnen, die sich ihm entzogen oder anderen von dessen Schandtaten berichteten, von der Schule verwiesen haben. Dazu soll er ihnen etwa vorgeworfen haben, Drogen zu konsumieren.
Am Tag von Beckers Tod stellten die beiden Opferanwältinnen den Zwischenbericht ihrer Untersuchungen vor. Er enthält mehr als 50 Fälle sexueller Gewalt. Becker soll allein 17 Jungen im Internat missbraucht haben. Er soll sich hundertfach an ihnen vergangen haben.
Es war eine verspätete Aufarbeitung. Schon 1998 gab es deutliche Hinweise, dass Becker sich an Schülern vergangen hatte: Zwei Ex-Schüler berichteten dem damaligen Schulleiter von sexuellen Übergriffen.
Die Konsequenzen seitens der Schule blieben aus. Becker zog seine eigenen: Er legte seine Funktionen im Trägerverein und im Förderkreis nieder. Die Vorwürfe wurden zwar im Jahr darauf öffentlich, doch eine Aufklärung unterblieb. Und Becker hielt weiter Vorträge, trat als "Vorzeigepädagoge mit ganzheitlichem Bildungsansatz" auf, als wäre nichts geschehen. Und auch ehemalige Kollegen können bis heute nicht ihr Bild von Becker revidieren: "Er hatte doch auch gute Seiten", sagen manche, berichtet Schulleiterin Kaufmann im Interview mit SPIEGEL ONLINE über die Apologeten.
Für diese ehemaligen Kollegen Beckers mag der Bruch zu groß gewesen sein, der Bruch zwischen Schein und Sein, der durch die Enthüllungen im März aufriss, als das ganze Ausmaß im Zuge der Missbrauchsdebatte in der katholischen Kirche offenbar wurde.
Becker versuchte per Brief zu entschuldigen, was nicht zu entschuldigen ist
Mit dem Tod Beckers endet das Leben eines Mannes, der lange als Pädagoge bewundert wurde, der als Pate für den Erfolg der Odenwaldschule galt. Er hatte zunächst Theologie studiert. Später widmete er sich in Göttingen der Pädagogik und Psychologie. Am dortigen Seminar traf er auf Hartmut von Hentig, den Guru der Reformpädagogen, der später sein Lebensgefährte wurde. 1969 kam Becker an die Odenwaldschule, dem Aushängeschild der Reformer, und wurde drei Jahre später deren Leiter.
Becker erarbeitete sich einen Namen unter den Anhängern der Reformpädagogik, er beriet Schulen, er hielt Vorträge, er veröffentlichte Aufsätze. Von Hentig hatte Becker im März angesichts seiner Leistungen gegenüber dem SPIEGEL verteidigt und erklärt, wie er ihn bewunderte, "voll Neid, wie gut diesem Mann gelang, auf Kinder einzugehen, ihnen etwas zu erklären, sie durch Ablenkung oder geduldiges Zureden von einem Unfug abzuhalten".
Er beschrieb einen Mann, der die Idee der Reformpädagogik lebte, Schüler allem voran zu Mündigkeit und Mut zu erziehen. Die Wahrheit konnte oder wollte er nicht eingestehen.
Becker selbst schwieg lange zu den Vorwürfen, bis er seine Schuld in einem Brief an die heutige Leiterin der Schule einräumte: "Schüler, die ich in den Jahren, in denen ich Mitarbeiter und Leiter der Odenwaldschule war, durch Annäherungsversuche oder Handlungen sexuell bedrängt oder verletzt habe, sollen wissen: Das bedauere ich zutiefst und ich bitte sie dafür um Entschuldigung." Es war der misslungene Versuch, mit knappen Worten zu entschuldigen, was nicht zu entschuldigen ist.
Eine strafrechtliche Verfolgung hatte Becker nicht mehr zu fürchten: Im Juni hatte die Staatsanwaltschaft Darmstadt ihre Ermittlungen gegen ihn eingestellt, weil die Taten verjährt sind. Doch damit wurden die Rufe nach einer Entschädigung der Opfer nur lauter.
In seinem Brief äußerte Becker den Willen, sich den Opfern stellen zu wollen: "Die von mir vor zwölf Jahren geäußerte Bereitschaft zu einem Gespräch mit betroffenen Schülern wiederhole ich noch einmal." Es blieb bei der Erklärung - nach dem Brief schwieg Becker wieder, gegenüber den Opfern, gegenüber der Öffentlichkeit.
Auch der SPIEGEL bat Becker mehrmals um ein Interview - und erhielt Absagen. Zuletzt ließ Becker am 28. Juni mitteilen, dass sich sein Gesundheitszustand mittlerweile so verschlechtert habe, dass ein Interview nicht möglich sei.
So bleiben die Anschuldigungen der Opfer und die Erkenntnisse aus den Untersuchungen ohne Gegenrede.
"Ich sterbe mich aus der Verantwortung"
Die Untersuchungen werden mit Beckers Tod nicht enden. Das werden die Opfer verlangen, das verlangt die Tatsache, dass es weitere Täter gibt. Und schließlich dient die Aufklärung, wie ein solches System entstehen und erhalten werden konnte, heutigen und zukünftigen Schülern aller Internate: Umso genauer ist die Erkenntnis, wie ein solches Verbrechen künftig verhindert werden kann.
Unter den Altschülern überwiegt gar die Hoffnung, dass der Tod Beckers den Weg erst freimacht für eine Aufarbeitung. "Es ist schade, aber nicht traurig", sagt Adrian Körfer, der von 1968 bis 1974 als Schüler in Beckers Familie im Herderhaus lebte - und von dem Pädagogen missbraucht wurde. Er klingt nicht bitter, sondern abgeklärt. Heute arbeitet auch er im Vorstand der Schule.
"Die Täter waren feige, als sie sich an den Kindern vergriffen haben, sie waren feige, als sie die Chance hatten, sich zu entschuldigen, und sie werden an diesem Abend feige sein und nicht kommen", sagt Dohnanyi. Keiner der Täter hatte auf die Einladung reagiert. Auch nicht Gerold Becker.
Die Schuld, sagt eine Altschülerin, müsse er nun mit ins Grab nehmen. "Und so einen Tod kann man niemandem wünschen." An diesem Freitag hat eine Gruppe von Künstlern Plakate auf dem Gelände der Schule aufgehängt. Auf einem ist ein Grabstein zu sehen, vor ihm liegt eine Rose. Daneben steht geschrieben: "Ich sterbe mich aus der Verantwortung."