Pädagogik-Guru Hentig zum Missbrauch an der Odenwaldschule
Kein böses Wort, kein Zweifel
Über Jahrzehnte wurde er bewundert, er gilt als einer der bedeutendsten deutschen Pädagogen der Nachkriegszeit. Jetzt sind viele bestürzt: Hartmut von Hentig soll die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule leugnen und bagatellisieren - und damit seinen Lebensgefährten decken, den ehemaligen Schulleiter. Gegenüber dem SPIEGEL versucht er eine Erklärung.
Einen Tag lang rang er mit sich, dann entschied Hartmut von Hentig: Ja, er wolle sich den drängenden Fragen stellen, er wolle nicht schweigen zu den schlimmen Vorwürfen. Der große alte Mann der Reformpädagogik, eine Koryphäe, ein Idol, manche sagen: ein Guru, forderte den SPIEGEL auf: "Fragen Sie, was Sie fragen wollen oder müssen."
Es sind viele, schreckliche, intime Fragen, die man dem 84-Jährigen in diesen Tagen stellen muss. Sein Lebensgefährte Gerold Becker war Leiter der Odenwaldschule, von 1972 bis 1985, er war der Leiter, dem nun immer neue Missbrauchsvorwürfe gemacht werden. Der Mann, der die deutsche Schule zu einer besseren gemacht hat, lebt mit einem Mann zusammen, der - so erzählen es ehemalige Schüler - Kinder geschändet hat.
Was hat Hentig gewusst, was hätte er wissen müssen? Und ist seine Pädagogik mitverantwortlich? Ein Reporter der Süddeutschen Zeitung hat ihm am Freitag ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt, nachdem er ihn besucht hatte: "Hentig leugnet, verdrängt und bagatellisiert." Danach hat sich Hentig wieder von der Welt abgeschottet. "Nicht ich verfolge irgendwelche Nachrichten - ihre Macher verfolgen mich, so dass ich das Telefon nicht mehr abnehme, meine Wohnungstür nicht mehr öffne."
Die jetzige Schulleiterin sei "im Begriff, die Aufklärung zu versäumen"
Gegenüber dem SPIEGEL aber hat er sich ausführlich geäußert. Ein Faxgerät besitzt er offenbar nicht, E-Mails schreibt er nicht. Ein Bote hat den Brief mit den Fragen vorbeigebracht und einen Tag später sieben Blätter voller Antworten abgeholt. Hentig schreibt von "erstaunlichen Unterstellungen" und betont immer wieder, dass nichts bewiesen sei: "Die Beschuldigungen müssen geklärt worden sein, bevor man anfangen kann, einen Zusammenhang mit irgendeinem pädagogischen Programm herzustellen oder zu leugnen." Noch aber sei nichts geklärt; bisher seien "nur Aussagen gesammelt, nicht aber geprüft" worden.
Die
jetzige Leiterin der Odenwaldschule kritisiert er darum in deutlichen Worten. Sie sei "im Begriff, die Aufklärung zu versäumen, wenn nicht gar zu verderben, indem sie von vorneherein Aussagen der Beschuldiger, deren Erinnerung an lang Zurückliegendes, zum Teil durch bloße Mutmaßungen wie Fakten behandelt hat". Er finde es ja richtig, dass sie ernst nehme, was ihr die Schüler sagen. "Aber solange sie nicht auch andere ehemalige Schüler, Erwachsene, Eltern angehört und nicht auch Verbindung zu den Beschuldigten wenigstens gesucht hat, sollte sie sich der rechtsstaatlich gebotenen Vorbehaltsklauseln bedienen."
Kein Zweifel, keine Kritik, sondern "Bewunderung" für seinen Lebensgefährten
Über seinen Lebensgefährten verliert er kein einziges böses Wort, nicht mal ein zweifelndes ist auf den sieben Blättern zu finden. Hentig schreibt vielmehr von der "Bewunderung" für dessen Pädagogik und dem "Neid, wie gut es diesem Mann gelang, auf Kinder einzugehen, ihnen etwas zu erklären, sie durch Ablenkung oder geduldiges Zureden von einem Unfug abzuhalten".
Nein, er mache sich keine Vorwürfe, dass er etwas hätte bemerken müssen: "Die könnte ich mir doch nur machen, wenn es einen Anlass dazu gegeben hätte - eine Verdacht erregende Wahrnehmung, ein Misstrauen, ein mir zugetragenes Gerücht."