Pisa-Versager Die Aufgegebenen

Bei 20 Prozent der Schüler besteht die Gefahr, dass sie keinen Abschluss machen.
Foto: Peter Steffen/ picture-alliance/ dpaWer schon einmal in einer fremden deutschen Großstadt war, der weiß: Das richtige Ticket für eine der vielen Tarifzonen zu lösen, kann einen ins Schwitzen bringen. Nicht nur alte Damen mit Hut verzweifeln überall in Deutschland vor den Ticket-Automaten und wenden sich hilfesuchend an die Jüngeren.
Pisa hat nun gezeigt: Leider können 20 Prozent der 15-Jährigen in Deutschland ihnen auch nicht recht weiterhelfen. Das ist das Ergebnis des neuen Pisa-Tests, der sich mit Alltagsaufgaben wie eben dem Kampf mit einer Fahrkartenmaschine oder dem Thermostat einer Klimaanlage befasst hat.
In der Berichterstattung hat sich für die Schulverlierer der angeblichen Bildungsrepublik der wuchtige Begriff vom "Sockel der Abgehängten" etabliert. Sockel klingt irgendwie schön stabil - und stabil ist er leider auch.
Seit der ersten Pisa-Studie vor über zehn Jahren wissen alle, dass es diese Gruppe von benachteiligten Jugendlichen gibt. Ein Fünftel der jungen Deutschen sind sogenannte Risikoschüler. Anders formuliert: Bei 20 Prozent besteht die Gefahr, dass sie keinen Schulabschluss machen. War so. Ist noch immer so.
In der Folge des Pisa-Schocks 2001 gab es einige Anstrengungen, daran etwas zu ändern. Vor allem in frühkindliche Spracherziehung wurde investiert, denn die richtige Annahme lautet: Wer nicht richtig Deutsch kann, versteht keine Matheaufgaben, keine Automaten, keine Gebrauchsanweisungen, keine Texte.
Der Fokus der Frühförderung lag vor allem bei Migrantenkindern, denn bei ihnen war der Lernrückstand schon in der ersten Pisa-Studie besonders groß. Doch mittlerweile ist bekannt: Für massive Sprachprobleme muss ein Kind im Grundschulalter nicht unbedingt eine Migrantengeschichte vorweisen. Rückstand ist keine Frage der Nationalität, wohl aber der Herkunft. Die Abgehängten leben in Regionen mit einer strukturellen Arbeitslosigkeit von mehr als 20 Prozent wie in den teilweise entvölkerten Landstrichen Ostdeutschlands, aber auch in den Armutshochburgen des Westens und Nordens.
Forscher beschreiben dieses Herkunftsproblem der Schüler mit dem Begriff sozio-ökonomischer Status. Der wirkt sich bei der diesmal getesteten Problemlösungsfähigkeit geringer aus als etwa in Mathematik. Bei dem niederschmetternden Ergebnis ein sachter Hinweis darauf, dass Intelligenz eben gleich verteilt ist - und nicht, wie die klassischen deutschen Schulleistungen, so erschreckend stark vom Geld oder der Herkunft der Eltern abhängt.
Fazit von Pisa 2012 ist zwar, dass Deutschland gutes Mittelmaß ist. Doch wie bei den vorherigen Pisa-Studien gilt: An den Gymnasien tummelt sich eine Spitzengruppe, die mit den Besten der Welt locker mithält. Der viel zu große Anteil der Bildungsverlierer aber verhagelt das Gesamtergebnis. Das war 2001 so. Das ist noch immer so. Die Bildungspolitiker haben sich nach dem Pisa-Schock bemüht? Fein. Sie werden sich mehr bemühen müssen.
Doch womit verkämpfen sich die Schul- und Kultusminister in diesem Frühjahr in den meisten Bundesländern? Sie fragen sich und die Eltern, ob es am Gymnasium wieder neun statt acht Jahre Schulzeit bis zum ersehnten Abitur sein sollen. Sie werden mit Volks- und Bürgerbegehren des Bildungsbürgertums bedrängt und handeln entsprechend, weil sie sich vor schlechten Wahlergebnissen und protestierenden Eltern fürchten. Niedersachsen ist schon umgefallen, Bayern könnte das nächste Land sein, das an seinen Gymnasien herumreformiert.
Und die Abgehängten? Jugendliche, die daran scheitern, sich die richtige Zonenkarte zu kaufen? Die keine Bewerbung schreiben können? Die lösen Probleme auf ihre Weise. Sie merken, dass es auch ohne Fahrschein geht und irgendwie auch ohne Job. Sie wursteln sich durch und finden das anfangs vielleicht ganz lustig. Auf Dauer aber dominiert das Gefühl, nicht dazuzugehören. Sie fallen aus der Gesellschaft. Diesem Problem müssen sich die Schulminister endlich stellen.