
Schlechtes Abschneiden beim Schulvergleich Pisa-Absturz schockiert Schweden



Alle sind sie nach Schweden gereist, die damalige Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD), Erziehungswissenschaftler, Landtagsabgeordnete, Lehrer. Sie wollten das Geheimnis lüften und wissen, warum schwedische Schüler in der Pisa-Studie so gut abschneiden. Erst ein paar Jahre ist das her.
Und jetzt? Kein Land ist in der aktuellen Pisa-Studie so sehr abgestürzt wie Schweden. In Mathe, in den Naturwissenschaften und beim Lesen liegen die Nordeuropäer inzwischen unter dem OECD-Durchschnitt. Der einstige Primus trägt schwer an dieser Niederlage. "Das ist bitter für Schweden", sagte der liberale Bildungsminister Jan Björklund. "Ein schockierendes Resultat", sagt Magnus Oskarsson, Schwedens Pisa-Koordinator.
Was ist aus der damals hochgelobten schwedischen Gesamtschule geworden? Doch nicht so vorbildlich? Können sich jetzt all jene bestätigt fühlen, die diese Schulform immer schon als linke Utopie belächelten? Wie konnte es so weit kommen?
"Das ist die 10.000-Euro-Frage", sagt Oskarsson. Deutschland erlebte seinen Pisa-Schock 2001, Schweden macht ihn jetzt durch. Das Land muss Antworten finden auf viele Fragen, die eine gibt es nicht. Oskarsson vermutet, dass Lehrer sich nicht mehr wohlfühlen an Schwedens Schulen, zu groß ist der öffentliche Druck, zu gering sind Bezahlung und Ansehen. Auch die zahlreichen Tests, Messungen und Inspektoren brächten die Qualität nicht zurück, betont Oskarsson. Sie zeigten vielmehr auf, wo es nicht läuft. Die Frage müsse vielmehr sein: Was funktioniert?
Zwei Stunden, dutzende Fragen - der Pisa-Test ist eine harte Prüfung für 15-jährige Schüler. Hier können Sie sich durch Beispielfragen zu Mathematik, Naturwissenschaften und Leseverständnis knobeln.
Hier geht's zum Test!
Dann sind da noch die Reformen der neunziger Jahre, die Bildungsexperten in der Debatte als mögliche Ursache nennen. Sie veränderten damals das Schulwesen grundlegend: Von da an finanzierte der Staat nicht nur kommunale, sondern auch freie Schulen. Gleichzeitig gab er Verantwortung an die Kommunen ab, auch Lehrer und Rektoren durften fortan stärker selbst bestimmen, was sie wie unterrichten. Zudem stärkte der Staat die Macht der Eltern - was die aktuellen Pisa-Ergebnisse zu einem Großteil erklären könnte.
Denn seitdem können Eltern im Prinzip selbst entscheiden, welche Schule ihr Kind besucht: Natürlich sollte diese Reform, wie jede Reform, das Schulsystem verbessern. Es sollte die Wahlfreiheit stärken, den Wettbewerb beleben. Und auch jene Kinder, die in eher armen Verhältnissen aufwachsen, sollten die Chance bekommen, Schulen in wohlhabenden Vierteln zu besuchen. Allerdings zeigen Studien: Bislang blieb es bei diesem hehren Ziel. Erreicht wurde es nicht.
Früher glänzte Schweden in Untersuchungen wie Pisa vor allem damit, dass alle Schüler im Wesentlichen ähnlich abschnitten. Es gab keine großen Ausreißer nach oben und unten, egal wo der Schüler lebte und welche Schule er besuchte. Von Bildungsgerechtigkeit sprechen Experten. Das Skolverket, die nationale Bildungsagentur, wollte wissen, warum diese ins Wanken geraten ist, und heizte mit einer Studie im vergangenen Jahr die Schuldebatte an.
Die Fachleute untersuchten darin zunächst die sozio-ökonomische Situation an Schwedens Schulen: Versammeln sich heute mehr Akademikerkinder an bestimmten Schulen als vor zehn Jahren? Ja, schreiben die Forscher, allerdings ist der Anstieg nur marginal. Versammeln sich heute mehr Kinder mit ausländischen Wurzeln an bestimmten Schulen? Ja, aber nicht viel mehr. Die gestiegene Ungerechtigkeit ließe sich so nicht erklären, schreiben die Autoren. Wie dann?
Sie vermuten, dass es versteckte Eigenschaften gibt, die keine Statistik direkt abfragt. Sie vermuten, dass sich die besonders engagierten und motivierten Schüler (samt ihren Eltern) an bestimmten Schulen versammeln. So bilden sich Streberschulen, die andere abhängen.
Diese These wird laut Skolverket durch Pisa gestützt, denn im Rahmen der Studie geben die Schüler auch an, wie viel sie lesen. Die Forscher verglichen das Lese-Engagement von 2000 und 2009 und stellten fest: Die Leseliebhaber konzentrieren sich zunehmend auf einzelne Schulen. Und wer viel liest, schneidet auch in Bildungsstudien regelmäßig besser ab.
An diese Ergebnisse knüpft eine Analyse von Bo Malmberg, Geografie-Professor an Stockholms Universität, und seinen Kollegen an. Sie untersuchten, wie weit Oberstufenschüler in Schweden zur Schule pendeln. Den weitesten Weg nahmen demnach Kinder auf sich, deren Eltern hochausgebildet, in Schweden geboren, nicht alleinerziehend sind und die keine Sozialhilfe bekommen. Diese Schüler flüchten mitunter geradezu vor "unterprivilegierten Gruppen", schreiben die Forscher in einem Gastbeitrag in der Zeitung "Dagens Nyheter".
Befürworter verteidigen die freie Schulwahl. So antwortete der liberale Think-Tank Timbro mit einem Seminar auf die Ergebnisse der nationalen Bildungsagentur: "Können alle Schulen gleich gut werden?" Sie verweisen auf die zunehmende Trennung des Wohnungsmarkts, Reiche bleiben unter sich, Ärmere versammeln sich in Hochhaussiedlungen; das wirke sich auch auf die Schulen aus. Andere meinen, Lehrer sollten besser bezahlt und wertgeschätzt werden. Wieder andere geben Einwandererkindern die Schuld. Schließlich lässt Schweden im europäischen Vergleich recht großzügig Flüchtlinge ins Land.
Doch Bildungsminister Björklund zeigt vor allem auf seine Vorgänger, spricht bei einer Pisa-Pressekonferenz von "geteilter historischer Verantwortung". Zudem initiierte er in den vergangenen Jahren eine Reihe weiterer Reformen: Unter anderem ließ er neue Lehrpläne aufstellen, die Anforderungen am Gymnasium anheben, die Lehrerausbildung überarbeiten. Außerdem präsentierte er eine neue Behörde: ein Schulforschungsinstitut. Es soll ab Herbst 2014 den Unterricht an Schwedens Schulen begleiten und analysieren.
Und der Bildungsminister bemühte sich um Zuversicht: "Schweden kann wieder an die Spitze zurückkommen", sagte er. Vielleicht sollte er dafür mal nach Deutschland reisen; schließlich kämpft Deutschland sich allmählich nach oben. Eine nicht ganz abwegige Idee, findet Pisa-Koordinator Oskarsson. Er fragt: "Wie habt ihr das gemacht?"
SPIEGEL+-Zugang wird gerade auf einem anderen Gerät genutzt
SPIEGEL+ kann nur auf einem Gerät zur selben Zeit genutzt werden.
Klicken Sie auf den Button, spielen wir den Hinweis auf dem anderen Gerät aus und Sie können SPIEGEL+ weiter nutzen.
Nach der ersten Pisa-Studie im Jahr 2001 schaute Deutschland nach Schweden. Schließlich hatte das Land sehr gut abgeschnitten. In diesem Jahr allerdings sackten die Nordeuropäer so stark ab wie niemand sonst. Was ist passiert? mehr...
Die Tabelle zeigt an, wie sich die Länder durchschnittlich pro Jahr verbessert oder verschlechtert haben. Nicht nur im Bereich Mathematik landete Schweden ganz hinten.
"Das ist bitter für Schweden", sagte der liberale Bildungsminister Jan Björklund. Er versuchte bei einer Pressekonferenz am Dienstag aber auch, Zuversicht zu verbreiten: "Schweden kann wieder an die Spitze zurückkommen."
Um das zu erreichen, verabschiedete der schwedische Reichstag zuletzt zahlreiche Reformen: Neue Lehrpläne wurden aufgestellt, die Anforderungen am Gymnasium angehoben, die Lehrerausbildung wurde überarbeitet. Bis die Reformen wirken, wird es wohl allerdings noch dauern.
Mathematik: Gruppen der Länder, die sich seit 2003 - als im Rahmen der Pisa-Studie zum ersten Mal Mathematik getestet wurde - verbessert oder verschlechtert haben oder leistungsmäßig eher gleich geblieben sind. Seitdem wurden alle drei Jahre Schulkinder in den OECD-Ländern in Mathe geprüft, Deutschland hat im aktuellen Test aufgeholt. mehr...
Mathematik: So haben sich die Länder durchschnittlich pro Jahr verbessert oder verschlechtert. Die jahresdurchschnittliche Veränderung zeigt an, wie sich ein Land seit der ersten Teilnahme an der Pisa-Studie entwickelt hat.
Lesekompetenz: Die Aufsteiger, Absteiger und Stehenbleiber seit dem Jahr 2000, als im Rahmen der Pisa-Studie zum ersten Mal die Lesekompetenz getestet wurde.
Lesekompetenz: So haben sich die Länder durchschnittlich pro Jahr verbessert oder verschlechtert. Die jahresdurchschnittliche Veränderung zeigt an, wie sich ein Land seit der ersten Teilnahme an der Pisa-Studie entwickelt hat.
Naturwissenschaften: Gruppen der Länder, die sich seit 2006 - als im Rahmen der Pisa-Studie zum ersten Mal im Bereich Naturwissenschaften getestet wurde - verbessert oder verschlechtert haben oder leistungsmäßig eher gleich geblieben sind.
Naturwissenschaften: So haben sich die Länder durchschnittlich pro Jahr verbessert oder verschlechtert. Die jahresdurchschnittliche Veränderung zeigt an, wie sich ein Land seit der ersten Teilnahme an der Pisa-Studie entwickelt hat.
Mathe, Lesen, Naturwissenschaften: So haben die Teilnehmer der Pisa-Studie abgeschnitten. Die Daten wurden im Jahr 2012 erhoben und im Dezember 2013 veröffentlicht.
Im Mai zündeten schwedische Jugendliche Autos an, schmissen Steine, zertrümmerten Fenster. Das passte nicht recht ins Bild des heimeligen Schwedens. Plötzlich redeten alle über den Stockholmer Vorort Husby, über Probleme, die Kriminalität, die gescheiterte Integration.
Heute erinnert auf der Straße noch etwas verkohltes Blech an die Krawalle vom Frühjahr. Aber viele Jugendliche sind auch jetzt noch, Wochen später, verletzt von der Debatte. Sie sagen: "Journalisten haben Schmutz auf Husby geworfen." Und: "Wir wohnen gern hier." Sie kämpfen für ihr Viertel - wobei ihnen das manchmal selbst schwerfällt. mehr...
20 Minuten fährt die U-Bahn von Stockholms Centrum "T-Centralen" bis zur Station "Husby". Rund 12.200 Menschen leben in dem Ort, acht von zehn haben ausländische Wurzeln.
Hochhäuser statt Holzhütten: Viele Familien wohnen in kleinen Mietwohnungen.
Daniel Ghirmai, 25, ist in Husby aufgewachsen. Früher, sagt er, habe er selbst viel Mist gebaut, jetzt kämpft er für sein Viertel: Er arbeitet im Auftrag der Stadt mit den Bewohnern Husbys in einer Art Bürgerwacht. Und er kümmert sich um Ungdomsvärdar, was auf Deutsch etwa so viel heißt wie Gastgeber für Jugendliche.
Zu den Ungdomsvärdar gehören auch: Noshin, Ali, Alikalay und Ariam (von links nach rechts). Sie alle sind in Husby oder einem benachbarten Vorort aufgewachsen.
Die Stadt bezahlt Ungdomsvärdar dafür, das zu tun, was viele Jugendliche abends und am Wochenende tun: rumhängen. So sollen sie die manchmal große Kluft zwischen Behörden und Jugend überbrücken.
Ariam, 18, hat gerade ihr Abitur gemacht, ab Herbst möchte sie studieren, Medizin vielleicht. Ungdomsvärdar sollen auch Vorbild sein für die anderen Jugendlichen in Husby und sie inspirieren.
Am Wochenende und in den Ferien laufen sie nachts durch ihr Viertel, immer dorthin, wo Jugendliche sich aufhalten.
Abends, 22 Uhr in Husby, auch kleinere Kinder sind spätabends noch unterwegs, die Älteren kümmern sich um sie. Nur Frauen sieht man auf der Straße selten.
Um Mitternacht spielen viele noch Fußball, quatschen, lachen, hängen rum. Daniel sagt, Polizisten würden oft nervös, wenn sie so viele Jugendliche in Husby auf einem Haufen sehen. Sie würden sich fragen: Was stellen sie als nächstes an? Was werden sie anzünden? Wen bestehlen?
Jeder kennt jeden: Die Jugendlichen in Husby kennen sich, helfen sich, halten zusammen - das sagen sie zumindest. Sie fühlten sich wohl, sagen sie. Wobei Daniel gerade eine Wohnung in Stockholm bezogen hat. "Eines Tages muss man hier rauskommen", sagt er.