Pisa-Interview Schneewittchen und die Bildungsreformen

Frage: Wie beurteilen Sie die Bildungsreformen in Deutschland seit Veröffentlichung der ersten Pisa-Studie 2001?
Andreas Schleicher: Es ist ganz sicher Bewegung in die Bildungsdiskussion gekommen. Die Bedeutung guter frühkindlicher Förderung ist erkannt, und sie wird langsam auch zum integralen Bestandteil des Bildungssystems. Auch die Notwendigkeit, verbindliche Maßstäbe für den Erfolg von Bildung zu schaffen, ist heute weitgehend Konsens. Nicht zu vergessen die bessere Förderung von Ganztagsschulen, die in den meisten erfolgreichen OECD-Staaten schon seit Jahrzehnten fester Bestandteil des Bildungssystems ist. Und im Hochschulbereich schafft die Exzellenzinitiative Rahmenbedingungen für einen konstruktiven Wettbewerb. Dennoch bleibt vieles eine Optimierungsdebatte, man fragt sich, wie man das bestehende Bildungssystem noch ein wenig schneller, noch ein wenig besser machen kann. Es ist aber höchste Zeit, über die Binnenoptimierung hinaus auch über die langfristige Transformation der dem bestehenden Bildungssystem zugrunde liegenden Paradigmen und Strukturen nachzudenken, und zwar ohne ideologische Scheuklappen.
Wenn wir die Kinder des 21. Jahrhunderts von Lehrern mit einem Ausbildungsstand des 20. Jahrhunderts in einem Schulsystem unterrichten lassen, das im 19. Jahrhundert konzipiert wurde und sich seitdem nur graduell verändert hat, dann kann das so nicht funktionieren. Schulsysteme des 21. Jahrhunderts ersetzen Detailregulierung durch strategische Zielsetzungen; verknüpfen Lehrpläne, Standards und Rückmeldesysteme wirksam und schaffen Anreiz- und Unterstützungssysteme, die Lehrer motivieren, sich kreativ einzubringen und Verantwortung für Bildungsleistungen zu übernehmen. Sie antworten auf die verschiedenen Interessen, Fähigkeiten und sozialen Kontexte der Schüler nicht mit institutioneller Fragmentierung, sondern mit einem konstruktiven und individuellen Umgang mit Vielfalt.
Dazu nutzen sie Klassenarbeiten und Zensuren nicht in erster Linie zur Kontrolle, etwa um Leistungen zu zertifizieren oder den Zugang zu Bildungsangeboten zu rationieren, sondern sie schaffen motivierende Leistungsrückmeldungen, die Vertrauen in Lernergebnisse schaffen, und mit denen Lernwege entwickelt, individualisiert und begleitet werden können. Die Schulen des 21. Jahrhunderts sind Lernorganisationen, in denen Lehrer voneinander und miteinander lernen, mit einem professionellen Management sowie einem Arbeitsumfeld, dass sich durch mehr Differenzierung im Aufgabenbereich, bessere Karriereaussichten und Entwicklungsperspektiven, die Stärkung von Verbindungen zu anderen Berufsfeldern und mehr Verantwortung für Lernergebnisse auszeichnet.
Frage: Was halten Sie vom Zentralabitur, wie es etwa Bundesbildungsministerin Annette Schavan fordert?
Schleicher: Grundsätzlich halte ich das für den richtigen Ansatz, weil ein Zentralabitur Maßstäbe für den Erfolg von Bildungsanstrengungen und Transparenz und Vergleichbarkeit sowohl für den Schüler als auch für die Hochschulen schafft. Überdies ermöglicht die verbindliche Festlegung von Zielvorgaben auch, den Schulen größere Freiräume bei der Gestaltung von Lehrplänen und der Lernumgebung einzuräumen. Denn wer Klarheit bei der Zielsetzung schafft, kann umgekehrt mehr Vielfalt bei der Umsetzung der Ziele zulassen.
Frage: Namhafte Bildungsforscher wie der deutsche Pisa-Koordinator Manfred Prenzel oder der Dortmunder Wissenschaftler Wilfried Bos sind der Meinung, aus den Pisa-Daten lasse sich nicht herauslesen, dass die mittelmäßigen Leistungen von Schülern in Deutschland auf das dreigliedrige Schulsystem zurückzuführen seien.
Schleicher: Die Analysen der OECD zu diesem Thema, die mit den 30 OECD-Staaten im Konsens abgestimmt wurden, haben ein klares Ergebnis: Die frühe Selektion verstärkt den Einfluss von sozialer Herkunft auf Bildungsleistungen ohne positive Wirkung auf die Gesamtleistung eines Bildungssystems. Die starke Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft ist letztlich Ausdruck eines Systems, das Verantwortung abwälzt. Viele Gymnasiallehrer fragen sich nicht, wie sie einen schwachen Schüler besser fördern können, sondern glauben, sie machen den richtigen Unterricht und haben nur die falschen Schüler, die eigentlich woanders hingehören. Und so werden die Schüler, vor allem jene mit Migrationshintergrund, nach unten durchgereicht und bekommen nie eine relle Chance, ihr Leistungspotenzial zu entfalten. Im Ergebnis verstärkt das deutsche Bildungssystem den Einfluss von sozialem Hintergrund auf Bildungsleistungen, anstatt diesen abzumildern.
Viele der erfolgreichen Länder sehen die verschiedenen Interessen, Fähigkeiten und sozialen Kontexte der Schüler nicht in erster Linie als Problem, sondern legen den Schwerpunkt ihrer Anstrengungen darauf, wie sie das Potenzial, das in der Verschiedenheit der Schüler liegt, wirksam nutzen und einbringen können. Dazu konzentrieren sie die Schwierigkeiten nicht, wie das deutsche Schulsystem, in einer Hauptschule, wo sie dann kaum noch zu lösen sind, sondern erwarten von guten Lehrern und Schulen, auf diese Verschiedenheit konstruktiv einzugehen und Lernprozesse entsprechend zu individualisieren.
Frage: Befürchten Sie, dass die Angriffe von CDU/CSU-Bildungspolitikern gegen Ihre Person dem Ansehen der OECD-Bildungsabteilung in Deutschland insgesamt schaden könnten?
Schleicher: Der Erfolg und das Ansehen der OECD beruht auf bildungspolitischer Relevanz und wissenschaftlich abgesicherter, robuster Methodik. Die Pisa-Studie hat hier international Maßstäbe gesetzt und hält uns einen Spiegel vor Augen, in dem wir Deutschlands Schulen im Lichte der Leistungsfähigkeit anderer Bildungssysteme betrachten können. Dass dem einen oder anderen die Ergebnisse nicht gefallen, damit müssen wir leben.
Als kleines Kind hat man mir das Märchen vom Schneewittchen erzählt, in dem sich die Königin regelmäßig im Spiegel betrachtete und sehr unglücklich wurde, als sie eines Tages bemerkte, dass sie nicht mehr die Schönste war. Sie war aber nicht bereit, sich zu verändern, sondern schob die Schuld auf andere und versuchte diejenige, die sie mit der Wirklichkeit konfrontierte, zu vergiften. Als sich das Ergebnis auch nach dreimaligem Betrachten im Spiegel nicht verbesserte, warf sie den Spiegel schließlich hin. Genützt hat es ihr nichts, aber ihrem Königreich hat es sehr geschadet.
Tatsache ist doch, dass uns die globale Entwicklung nicht für vergangene Errungenschaften, sondern für heutige Leistungen belohnt. Sie vergibt uns unsere Schwächen nicht, und sie nimmt auch wenig Rücksicht auf Traditionen oder gewachsene Eigenheiten eines Bildungssystems. Der Erfolg ist mit denjenigen Menschen und Staaten, die veränderungsbereit und veränderungsfähig sind, und die auf neue Herausforderungen zugehen, anstatt sich ständig über diese zu beklagen. Aufgabe guter Bildungspolitik ist es, dafür den Rahmen zu schaffen und alle Beteiligten im Bildungssystem, seien es die Schüler, Eltern, Lehrer oder Schulleiter, darin zu unterstützen, die Herausforderungen anzunehmen.
Das Interview führte Uwe Gepp, AP