Pro und Kontra zur Pisa-Studie Was bringt die Vermessung der Schule?

Schüler an einer Hauptschule in Arnsberg
Foto: Julian Stratenschulte/ dpaDie Pisa-Studie hat die deutschen Schulen verändert - doch ob zum Besseren oder zum Schlechteren, das ist umstritten. Schüler würden immer mehr auf Tests gedrillt, und das ist gefährlich, sagt der Bildungsforscher Heinz-Dieter Meyer.
Pisa-Chef-Koordinator Andreas Schleicher hält dagegen: Deutschlands Schüler stünden heute viel besser da als vor der Veröffentlichung der ersten Pisa-Studie 2001.
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PRO
Andreas Schleicher
Die Pisa-Studie hat in Deutschland für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Es war das erste Mal, dass sich populäre Einschätzungen zur Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems im internationalen Vergleich bewähren mussten.
Pisa hat dabei nicht nur wichtige Herausforderungen für Deutschlands Schulen aufgezeigt, sondern auch beleuchtet, was die leistungsfähigsten Bildungssysteme der Welt in Bezug auf Qualität und Chancengerechtigkeit bereits erreicht haben.
Diese Erweiterung des Blickfeldes auf Alternativen in Bildungspolitik und -praxis hat die Diskussion in Deutschland reicher und bunter gemacht. Dieser rege internationale Austausch zwischen Lehrkräften, Forschern und Politikern ist das vielleicht wichtigste Ergebnis von Pisa.
Insbesondere die sehr ungleiche Verteilung von Bildungschancen in Deutschland alarmierte die Bildungspolitik. Zu den wichtigen Reformen, die daraufhin eingeleitet wurden, zählen: kompetenzorientierte nationale Bildungsstandards, die Einführung der Ganztagsschule, bessere Diagnostik der Lernentwicklung, die Unterstützung sozial benachteiligter Gruppen sowie Reformen bei der Lehrerbildung.
Das Ergebnis: Heute steht Deutschland im internationalen Vergleich viel besser da. Insbesondere ist es gelungen, die großen sozialen Unterschiede zu reduzieren. Auch Schüler mit Migrationshintergrund weisen heute deutlich bessere Leistungen vor.
Warum asiatische Schüler besser sind in Mathe
Allerdings war die Veränderungsdynamik in den asiatischen Staaten noch deutlich stärker ausgeprägt als bei uns. Deshalb hat sich der Leistungsabstand zu den Bildungssystemen zum Beispiel in Singapur oder Shanghai vergrößert. Während deutsche Schüler mathematische Formeln und Gleichungen verlässlich wiedergeben und anwenden können, gelingt es den Asiaten besser, wie ein Mathematiker oder ein Naturwissenschaftler zu denken und ihr Wissen flexibler auf neue Problemstellungen zu übertragen.
Die letzten Pisa-Ergebnisse zeigten außerdem, dass es den 15-jährigen Schülern in Deutschland insbesondere an den für die Zukunft so wichtigen kreativen Problemlösefähigkeiten mangelt. Sicher: Die Reproduktion von Fachwissen bleibt auch in der modernen Wissensgesellschaft wichtig. Aber heute lässt sich fast jede Multiple-choice-Aufgabe eines Schultests mit Hilfe eines Smartphones in Sekundenschnelle lösen.
Wenn wir wollen, dass unsere Kinder nicht nur fast so gut wie ein Smartphone sind, dann müssen wir die Ziele höher stecken. Auch deshalb wurde die Pisa-Studie weiter entwickelt. Sie bietet nun kreativem Problemlösen, eigenständigem und kritischem Denken sowie sozialen Kompetenzen größeren Raum, als dies in deutschen Lehrplänen derzeit der Fall ist. Damit wird Pisa auch weiterhin Anstöße für die Weiterentwicklung von Unterrichtskonzepten bieten.
Internationale Vergleiche wie Pisa sind immer komplex und nie perfekt, aber sie erweitern unser Blickfeld in einer Weise, die heute nicht nur nützlich, sondern unabdingbar ist.

Andreas Schleicher ist ein deutscher Statistiker und Bildungsforscher. Er leitet bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) das Direktorat für Bildung und ist Chefkoordinator der Pisa-Studien.
KONTRA
Heinz-Dieter Meyer
Die Pisa-Studie hat das Denken über Schule und Lernen weltweit in einer Weise beeinflusst, die ich aus verschiedenen Gründen für gefährlich halte. Die Studie und die riesige Aufmerksamkeit, die sie erfährt, hat zum Beispiel ganz erheblich zur Verbreitung einer fragwürdigen Testkultur an Schulen beigetragen.
Lehrer sind dazu angehalten, ihren Unterricht stark darauf auszurichten, dass ihre Schüler gute Ergebnisse bei Vergleichstests erzielen. Deshalb verengen sie die Lehre zu sehr auf Inhalte, die für solche Tests relevant sind - und lassen dafür all das weg, was in die Kategorie "nicht messbares Wissen" fällt. Gerade dieses Wissen erfordert aber oft eigenständiges, kritisches Denken.
Es gibt Lehrer, die versuchen, sich dem zu entziehen. Aber ich kenne viele Schulen, zum Beispiel in den USA, an denen Lehrer sich streng an standardisierte, behördliche Vorgaben halten müssen und kaum noch selbst über Themen bestimmen können. Denn auch Bildungspolitiker orientieren sich seit der Pisa-Studie stark an dieser neuen Testkultur.
Seitdem es das Länder-Ranking gibt, wird alles dem Gedanken untergeordnet, dass sich a) Bildung messen lässt und dass b) ein Schulsystem wettbewerbsfähig sein muss, und zwar ähnlich wie ein Wirtschaftssystem. Schulen werden einem Input-Output-Kalkül untergeordnet.
Bildung lässt sich nicht messen
Dieser Gedanke hat sich seit der Pisa-Studie nicht nur in der Politik unumkehrbar festgesetzt. Er führt unter anderem auch dazu, dass private Unternehmen Schulen und Eltern anbieten, den Output zu optimieren, um im Jargon zu bleiben, die Testleistungen von Schülern also zu steigern. Damit verdienen diese Unternehmen viel Geld.
Dabei ist der Input-Output-Gedanke in Bezug auf Bildung völlig anfechtbar. Ich verstehe Schule nicht vorrangig als Leistungssystem, sondern als einen Ort, an dem Menschen wachsen, ihren eigenen Weg finden und ihre Persönlichkeit entwickeln. Diese Form von Bildung lässt sich aber nicht messen, schon gar nicht im Sinne eines Länder-Vergleichs, der unterschiedliche nationale und kulturelle Hintergründe überhaupt nicht berücksichtigt.
Bei der Pisa-Studie wird eine einzige, von der OECD vorgegebene Messlatte an alle Schulsysteme angelegt. Sprich: Herr Schleicher bestimmt, was Schüler wissen müssen. Deshalb hätte Deutschland 2001 gar nicht in den vielzitierten Pisa-Schock verfallen müssen. Denn bei der Studie kam schließlich nur heraus, dass die deutschen Schüler bei diesem speziellen Test, der zum Beispiel nicht Humboldt'sche Bildung ermittelt, mittelmäßig abgeschnitten haben - mehr nicht.
Die Pisa-Studie kapiert jeder schnell
Es gibt andere Tests, zum Beispiel Timss, die den Lernstand von Schülern sehr viel differenzierter widergeben und durchaus hilfreich sind. Aber die erfahren leider nicht so eine mediale Aufmerksamkeit wie die Pisa-Studie, denn mit der lässt sich sensationsheischend ein Ranking abbilden, das jeder Redakteur und Leser sehr schnell, in fünf Minuten, erfassen kann.
Das ist verlockend, ja, aber mit der Aufmerksamkeit auf die Pisa-Studie hat sich die OECD in den vergangenen Jahren in die Rolle eines globalen Bildungsministeriums manövriert. De facto geht es um eine Zentralisierung des weltweiten Bildungswesens, und damit gehen wir bisher viel zu naiv um.
Ich finde das politisch extrem gefährlich, denn das bietet ein Einfallstor für eine Uniformität und Standardisierung des Denkens, Fühlens und Verhaltens. So etwas kennen wir aus Diktaturen, das kann niemand wollen.

Heinz-Dieter Meyer ist ein deutscher Bildungswissenschaftler, der derzeit an der State University of New York in Albany lehrt. 2014 schrieb er einen Offenen Brief an die OECD, um das Pisa-Ranking zu kritisieren - und fand einige Tausend Unterstützer.
Wofür steht "PISA"?
Die vier Buchstaben Pisa stehen für den weltweit größten Schulvergleichstest. Das "Programme for International Student Assessment" wird seit 2000 alle drei Jahre von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris organisiert. Die OECD tut dies im Auftrag der Regierungen - beziehungsweise in Deutschland für die Kultusministerkonferenz der 16 Bundesländer (KMK).
Getestet werden 15-Jährige mit wechselnden Schwerpunkten in Mathematik, Naturwissenschaften sowie Lesen und Textverständnis. Am Pisa-Test 2015 nahmen rund eine halbe Million Schüler aus etwa 70 Ländern teil - darunter die 34 OECD-Staaten, Partnerländer und aufstrebende Wirtschaftsregionen. In Deutschland machten rund 10.000 Schüler mit.