Pisa-Studie Die Schock-Therapie

Drei Zahlen waren es, die Deutschland schockten, die Zahlen lauteten: 484, 490, 487. -Forscher hatten dem Schulsystem vor zehn Jahren erstmals den Puls gefühlt und ihre verstörende Diagnose erstellt. In Worte übersetzt klang der Befund so: schwächlich, kränklich, schlechter als andere.
"Man musste nahezu mit Polizeischutz in die Pressekonferenz gehen", erinnert sich Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU), damals Präsidentin der Kultusministerkonferenz, "ein ganzes Land war erregt". Und das mit Recht, denn etliche deutsche Schüler versagten völlig, und alle zusammen erreichten nicht einmal den Durchschnittswert der Industriestaaten von 500 Punkten. Lesen, Mathe, Naturwissenschaften - alles unbefriedigend.
Wenn die Forscher am Dienstag die neuen Ergebnisse vorstellen, wollen sie den "Fokus auf die Veränderung legen", sagt Eckhard Klieme, Sprecher der deutschen Pisa-Forscher. "Bilanz nach einem Jahrzehnt" nennen er und seine Kollegen ihren Bericht, der Daten für Deutschland insgesamt enthält, aber keinen Vergleich von Bundesländern.
"Verbesserungen lassen sich auch schnell erzielen"
Die Bundesrepublik, die so gern "Bildungsrepublik" wäre, darf hoffen, dass ihre Schüler im Durchschnitt ein bisschen besser geworden sind. Und sie muss befürchten, dass Einwandererkinder und andere Risikokandidaten erneut erschreckend schlecht dastehen. Die diesjährige Diagnose der deutschen Schüler im internationalen Vergleich würde dann lauten: besser, aber nicht sehr gut - und immer noch ganz schön ungerecht.
Erste Meldungen, noch wenig präzise, gab es am Wochenende zu den Ergebnissen. So berichtet die "Financial Times Deutschland" in ihrer Montagsausgabe, deutsche Schüler hätten sich nur marginal verbessert; im Vergleich zur Studie von 2006 bewegten sich die Punktezuwächse bei Pisa 2009 im statistisch kaum relevanten Bereich. Beim Schwerpunkt Lesen komme Deutschland über einen Schnitt von 500 Punkten nicht hinaus.
In den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften wurde der Aufgabenkatalog im Vergleich zu den Vorgängerstudien offenbar deutlich verändert, was die Vergleichbarkeit erschwert. Hier sollen deutsche Schüler einem "Focus"-Bericht zufolge leicht aufgeholt haben, seien aber "immer noch nicht in die absolute Spitzengruppe aufgerückt" - womit ohnehin niemand rechnet, denn das käme einer Sensation gleich.
Nicht verraten werden die Zahlen jedenfalls, wie sich Verbesserungen erzielen lassen. "Pisa sagt uns nicht, was wir tun müssen, sondern erst einmal nur, wo die Probleme liegen", sagt Klieme. Wie man aber Schulsysteme zum Besseren verändert, hat die Unternehmensberatung McKinsey & Company soeben in einer weltweiten Studie untersucht. Sie stützt sich unter anderem auf die drei Pisa-Studien des vergangenen Jahrzehnts.
Die Berater interessierte nicht, was ein sehr gutes Schulsystem ausmacht; den Seriensieger Finnland, der seit seinem ersten Pisa-Erfolg von Besuchergruppen aus der ganzen Welt heimgesucht wird, ließen sie deshalb außen vor. Sie ergründeten vielmehr, wie Schulsysteme besser werden - welche Therapie also einer Diagnose folgen sollte.
Die wichtigste Erkenntnis von McKinsey: Erfolg muss nicht ewig dauern, sondern kann auch schnell erreicht werden. "Anders als oft behauptet stellen sich messbare Verbesserungen nicht erst in der nächsten Generation ein, sondern lassen sich innerhalb von sechs Jahren oder noch schneller erzielen", sagt der Münchner McKinsey-Partner Nelson Killius.
Was die Sachsen anders machen
Seine Kollegen in aller Welt haben 20 Schulsysteme analysiert, die sich in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten bei Leistungsvergleichen wie Pisa deutlich verbessert haben. In Deutschland wurde das Land Sachsen betrachtet, das beim letzten Pisa-Bundesländervergleich in allen Bereichen - Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften - auf Platz eins landete.
Den Erfolg Sachsens erklärt die McKinsey-Studie nicht etwa damit, dass das ganze System in den letzten Jahren auf den Kopf gestellt worden wäre. Ganz im Gegenteil: Gerade stabile Rahmenbedingungen beförderten den Erfolg, haben die Berater weltweit beobachtet. "Die öffentliche Debatte hingegen konzentriert sich häufig auf Strukturen und Ausgaben", konstatiert der McKinsey-Report.
Beispiele finden sich alleine in Deutschland genug: Kaum dass in einem Volksentscheid über vier oder sechs Jahre Grundschule abgestimmt haben, debattieren nun unter anderem Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen über die richtige Schulstruktur.
"Nach dem Referendariat gehen die Türen zu"
Die McKinsey-Studie lenkt das Augenmerk viel konkreter auf die Schule und das Klassenzimmer, den Lehrer und den Schulleiter. Ein Großteil der Verbesserungen könne man durch Veränderungen des Unterrichts und der Schulorganisation erreichen, sagen die Berater. Und weil sie es gewohnt sind, alles immer ganz genau auszurechnen, haben sie natürlich auch hier eine Zahl parat: 70 Prozent der Erfolgsfaktoren, die sich in aller Welt finden ließen, hätten weder mit Geld noch mit Strukturen zu tun.
Vielmehr müsse man "die Lehrpläne und den Unterricht sowie die Führung durch die Schulleitung verbessern". Nach Killius' Auffassung sollten Lehrer besser ausgewählt und in ihrer späteren Arbeit unbedingt zu mehr Austausch untereinander angehalten werden. Bisher wüssten die Lehrer viel zu wenig von der Arbeit des anderen, sagt Killius, "nach dem Ende des Referendariats gehen die Türen zu".
Die deutschen Schulforscher werden solche Aussagen freuen: Sie fordern seit Jahren eine bessere Lehrerausbildung. Gleich in seinem ersten großen Interview nach der Schock-Pressekonferenz 2001 mahnte der Forscher Jürgen Baumert, später zum "Pisa-Papst" erkoren, in der "Zeit" dringende Veränderungen an. "Deutschen Lehrern mangelt es nicht an Fachwissen, es fehlt an Absprachen und einer Veränderung der Routinen", meinte Baumert. Lehrer, die das gleiche Fach unterrichten, müssten sich auch mal im Unterricht besuchen.
: "Ein Chirurg lässt sich doch auch beim Operieren zuschauen."