Drei Lehrer zur Pisa-Studie "Ich habe ganz andere Sorgen"
Die neue Pisa-Studie steht kurz bevor, da ist der alte Schock noch unvergessen: 2001 sorgte Deutschlands schlechtes Abschneiden für Entsetzen. Drei Lehrer erzählen, was das bei ihnen auslöste - und wie es Schule veränderte.
Simone Fleischmann: "Mich nervt dieser Hype. Als die Pisa-Studie 2001 erschien, habe ich an einer Schule im Osten von München gearbeitet, in einer Gegend, die sich als Upper-Class-Speckgürtel beschreiben lässt. Was mich und meine Kollegen an den Ergebnissen damals am meisten verstört hat: Wir konnten nun schwarz auf weiß nachlesen, wie sehr der Bildungserfolg in Deutschland vom Elternhaus abhängt.
Es ist nicht so, dass viele von uns nicht längst gewusst hätten, dass es eine große Chancenungerechtigkeit gab. Jedem Lehrer war das klar, und er hat auf seine Art versucht, dem entgegenzuwirken: Kinder etwas mehr zu fördern, die zu Hause wenig Unterstützung bekommen. Aber mit der Studie wurde noch mal mit wissenschaftlichen Daten bestätigt, was wir in der Schule Tag für Tag erlebt haben.
- Jan Roeder
Das war ein heilsamer Schock, das hat viele Menschen wachgerüttelt und auf diesen Missstand aufmerksam gemacht. In meiner jetzigen Rolle als Präsidentin des Bayerischen Lehrerverbandes nervt mich allerdings dieser Hype, den es nun seit Jahren um die Pisa-Studie und ihre Ergebnisse gibt. Da entsteht immer eine riesige Hysterie, auf welchen Rang Deutschland es geschafft hat, ob wir etwas weiter oben oder unten liegen.
Damals wie heute geht es immer um dieses Ranking, da werden Pisa-Werte etwa zum Lesen, zu Mathematik oder Naturwissenschaften verglichen. Man fokussiert sich auf Zahlen, das hat die Pisa-Studie erreicht. Aber mal ganz ehrlich: Wegen dieser Zahlen ändere ich als Lehrerin doch nichts an meinem Unterricht, sondern den richte ich an den Bedürfnissen meiner Schüler aus, die in jeder Schule und Klasse völlig verschieden sein können.
Mancher sagt: 'Ich pfeife auf eure Ergebnisse'
Die Pisa-Studie fokussiert auf kognitive Leistungen in bestimmten Bereichen, aber gleichzeitig sind die Erwartungen daran, was Schülerinnen und Schüler sonst noch leisten sollen, unglaublich gestiegen: Sie sollen politisch mündige Bürger werden, gegen Mobbing aktiv werden, den Klimaschutz aufrechterhalten. Schulen sollen sich all diesen Herausforderungen auch noch stellen und stoßen teilweise an Grenzen.
Wir bräuchten zum Beispiel mehr Förderstunden, um Kindern mit Förderbedarf im Zuge der Inklusion besser gerecht zu werden. Als Lehrerin ärgere ich mich deshalb immer, wenn uns mit der Pisa-Studie ein Spiegel vorgehalten wird, in den wir doch sowieso schon selbst blicken. Wir Lehrer wissen, was an den Schulen gut und was nicht gut läuft - und was sich ändern müsste. Auf uns wird nur viel zu wenig gehört.
Wenn dann die Pisa-Studie rauskommt und wieder alle wissen wollen, ob Deutschland wohl etwas abgesackt ist, dann denkt sich der eine oder andere Lehrer: Ich habe hier vor Ort ganz andere Sorgen. Ich stehe vor einer Klasse mit knapp 30 Kindern, ich spüre, ein Schüler könnte mit etwas Förderung, die er zu Hause nicht bekommt, eigentlich viel mehr leisten, aber ich kann ihm nicht richtig helfen. Denn dann kommen alle anderen zu kurz. So etwas ist das Schlimmste für einen Lehrer, und da sagt mancher: 'Wisst ihr was, ich pfeife auf eure Pisa-Ergebnisse'."
Jens Weichelt: "Mein Bauchgefühl hat sich bestätigt.
Als 2001 die erste Pisa-Studie in Deutschland erschien, war das für mich ein wohltuender Schock - auch wenn das erst einmal merkwürdig klingt. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt seit Längerem das Gefühl, dass die Schülerleistungen immer weiter nach unten rutschten. Nicht von heute auf morgen, sondern in kleinen, kaum wahrnehmbaren Schrittchen.
Ich erinnere mich noch gut: Immer wieder, wenn ich damals aktuelle Klassenarbeiten mit solchen verglich, die vier oder fünf Jahre alt waren, beschlich mich dieses Gefühl: Das ging früher besser. Schüler mussten sich nicht mehr so anstrengen, um die Hürden in Arbeiten und Prüfungen zu nehmen, so mein Eindruck. Und trotzdem ging es immer wieder schief: Vor allem, wenn sie mal fächerübergreifend denken mussten.
- Arno Burgi/ picture alliance
Ich denke da zum Beispiel an einen Kurs in Gemeinschaftskunde, 12. Klasse, kurz vor dem Abitur. Ich hatte zwei Werte für das Bruttoinlandsprodukt angegeben, einen aktuellen und einen aus dem Vorjahr. Die Schüler sollten das prozentuale Wachstum berechnen. Simple Prozentrechnung. Das ist eigentlich Stoff für Achtklässler! Aber weil diese Aufgabe in einer Gemeinschaftskunde-Stunde auftauchte, brachte das einige völlig aus dem Konzept.
Gleichzeitig vermisste ich bei Jugendlichen die Bereitschaft, auch mal etwas zusätzlich zu machen, sich richtig reinzuhängen. Lernen und Leistung, so empfand ich es, hatten schleichend an Bedeutung verloren.
Im Nachhinein heilsam
Als die Pisa-Ergebnisse dann veröffentlicht wurden, war ich natürlich trotzdem entsetzt. Dass Deutschland international so schlecht dastand, überraschte mich. Andererseits sah ich mein Bauchgefühl bestätigt. Im Nachhinein betrachte ich Pisa 2001 als heilsam, weil der Bildungspolitik endlich wieder mehr Bedeutung beigemessen wurde. Die Medien berichteten, Wissenschaftler analysierten die Lage an den Schulen, Minister reisten durchs Land und diskutierten öffentlich, was besser laufen müsste.
Seitdem hat sich viel getan: Die Bildungsstandards wurden aufgesetzt, es gab endlich eine konkrete Vorstellung davon, was Schüler in Deutschland können sollten. In den Schulen schrieben wir fortan Vergleichsarbeiten. Manche Kollegen stöhnten über die Mehrarbeit, andere fühlten sich kontrolliert. Ich erinnere mich auch gut an die Widerstände mancher Kultusminister, die ihre Schüler partout nicht vermessen lassen wollten. Ich vermute, sie scheuten den öffentlichen Druck, der bei schlechtem Abschneiden folgen würde.
Die Schülerleistungen in Deutschland haben sich seit 2001 sehr verbessert, was mich freut. Trotzdem meldet sich aktuell manchmal wieder mein Bauchgefühl: Ich glaube, dass Schülerinnen und Schülern heute vieles andere wichtiger ist als das Lernen - vor allem, wenn es sich in den sozialen Medien abspielt."
Christoph Rabbow: "Mich hat das stark zum Nachdenken gebracht.
Als die Pisa-Ergebnisse erstmals vorgestellt wurden, war für uns die große Erkenntnis: Das, was gelehrt wurde, wurde nicht gelernt. Chemie und Mathematik waren offensichtlich für zu viele Schülerinnen und Schüler Bücher mit sieben Siegeln.
Damals als noch junger Lehrer hat mich der Pisa-Schock 2001 zum Nachdenken gebracht. 1999 hatte ich meine Lehramtsausbildung gerade erst abgeschlossen. Da hatte man uns beigebracht, dass es immer wichtiger würde, die Lebenswelt und den Alltag der Schülerinnen und Schüler noch stärker in den Unterricht einzubeziehen.
- privat
Anders als viele Kolleginnen und Kollegen habe ich deshalb schon vor dem Pisa-Schock die Wahrscheinlichkeitsrechnung unterrichtet, obwohl das an unserer Schule in der Oberstufe noch nicht auf dem Plan stand und die Stochastik in der Mittelstufe meist anderen "wichtigeren" Themen geopfert wurde.
Natürlich müssen am Ende des Tages viele klassische Unterrichtsinhalte, wie der Satz des Pythagoras, das Atommodell von Rutherford oder die Vorstellung abstrakter Molekülmodelle vermittelt werden. Es wird schon irgendwie laufen, habe ich mir gedacht, da ich selbst für die Lerninhalte ja motiviert war. Wenn es aber nicht gelingt, dass der Funke auf die Schülerinnen und Schüler überspringt, dann nützen die vorbereiteten Konzepte auch nichts.
Unterrichtsplanungen verworfen
Daher habe ich nach Pisa einige meiner Unterrichtsplanungen aus der Ausbildung verworfen. Einige Kollegen, die kurz vor ihrer Pensionierung standen, haben nach meinem Eindruck so weitergemacht wie bisher, vielleicht auch weil sie der ständigen Forderungen aus dem Ministerium müde waren. Aber es gab auch ältere Kollegen, die an Veränderungen durchaus interessiert waren.
2004 wurden dann verbindliche Bildungsstandards für die jeweiligen Fächer formuliert. Das hatte Einfluss auf die Kern- und Schulcurricula. Jetzt war es amtlich, dass sich Unterricht verändern musste.
Durch Pisa hat sich nicht nur verändert wie Lehrkräfte Wissen vermitteln, sondern auch, wie sie Leistung künftig bewerten sollen. Bis dato hatten wir unsere Abituraufgaben in den Weihnachtsferien selbst erstellt und wussten genau, was in den Klausuren auf die Schüler zukommt. 2006 war dies zum ersten Mal anders: Eine Kommission im Ministerium erstellte die zentralen Abituraufgaben, die alle Schülerinnen und Schüler im Land bearbeiten mussten. Dies ist bis heute so.
Da lief anfangs noch nicht alles rund
Vor allem in den ersten Jahren waren viele Kollegen beunruhigt, weil sie nicht wussten, wie die zentralen Aufgaben gestellt waren und wie sie ihre Schülerinnen und Schüler im Unterricht darauf vorbereiten können. Das hat sich heute relativiert und auch die Fachkollegen in den Kommissionen haben aus den ersten Feldversuchen gelernt.
Ich glaube, dass der Pisa-Schock insgesamt gutgetan hat. Heute wird deutlich weniger frontal unterrichtet, stärker auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingegangen und der Sinn von Unterrichtsinhalten aus der Schülerperspektive hinterfragt.
Dies merkt man auch an den Veränderungen in den Schulbüchern: Mittlerweile gibt es häufig drei verschiedene Aufgaben, die entsprechend markiert sind, für leistungsstarke, mittelstarke und schwächere Lerner. Dadurch können wir die Kinder noch gezielter fördern.
Auch die Abituraufgaben haben sich angepasst: Sie sind nicht mehr ausschließlich an Faktenwissen orientiert, sondern deutlich näher an für Schüler relevanten Kontexten dran. Manchmal geht das aber auch zu weit: Die Aufgabenstellungen sind teilweise so umständlich konstruiert und verklausuliert, dass die Schülerinnen und Schüler vor lauter Verpackung den Inhalt nicht mehr erkennen können, so wie wir es im Mathematik-Abitur erleben konnten."