Polen Lehrer streiken, Abitur in Gefahr

Seit über einer Woche streiken die polnischen Lehrer. Die Bevölkerung zeigt viel Solidarität - die älteren Schüler aber fürchten um ihre Abschlüsse.
Streikende Lehrer in Warschau: Ohne Nebenjob kommt man kaum über die Runden

Streikende Lehrer in Warschau: Ohne Nebenjob kommt man kaum über die Runden

Foto: Attila Husejnow/ SOPA Images/ LightRocket/ Getty Images

"Die Fremdsprachen-Prüfungen der Achtklässler konnten stattfinden" - was seltsam klingt, war in dieser Woche eine der wichtigsten innenpolitischen Nachrichten in polnischen Medien. In Polen sind solche Schlagzeilen zur Zeit nicht ungewöhnlich. Seit Montag vergangener Woche befinden sich viele Lehrer im Streik.

Der Arbeitskampf startete pünktlich zum Beginn der Prüfungszeit, die im polnischen Schulsystem von enormer Bedeutung ist. Nach achtjähriger Grundschule entscheidet sich in diesen Wochen, ob Schüler auf Allgemeinbildende oder Technische Oberschulen kommen, wo sie dann ihr Abitur ablegen oder auf mehrjährigen Berufsschulen ihre Schullaufbahn beenden. Und für Abiturienten stehen im Moment die Vorklausuren an.

Der seit Tagen andauernde Streik ist der bisher letzte Höhepunkt eines seit Wochen andauernden Konflikts zwischen der polnischen Regierung und der Lehrergewerkschaft ZNP sowie den im Gewerkschaftsverband FZZ organisierten Pädagogen. Es geht ums Geld: Nach Angaben des polnischen Bildungsministeriums verdient ein diplomierter Lehrer, der höchste berufliche Aufstieg, den in Polen ein Pädagoge erreichen kann, durchschnittlich 3.784 Zloty (rund 880 Euro) - was nach Ansicht des Bildungsressorts ein gutes Gehalt ist.

Zweifel an Regierungsangaben

Eine Meinung, mit der die Regierung jedoch ziemlich alleine dasteht. Nicht nur, weil die vom Bildungsministerium angegebenen 880 Euro mit über 100 Euro unter dem polnischen Durchschnittsgehalt liegen. Laut einem Bericht der Tageszeitung "Rzeczpospolita", die eine Umfrage  unter Lehrern durchführte, entspricht die vom Ministerium genannte Summe nicht der Realität.

Je nach Region verdient ein diplomierter Lehrer demnach, inklusive Zulagen, maximal 700 Euro. Mit noch weniger Geld im Monat müssen der Umfrage zufolge Referendare auskommen, die knapp 2.000 Zloty (470 Euro) verdienen. Der Unterschied zwischen den Umfrageergebnissen und amtlichen Statistiken wird mit einem simplen Trick des Bildungsministeriums erklärt: Das rechnet in seine Gehaltsangaben für berufserfahrene Pädagogen auch alle möglichen Zahlungen wie Berufsjubiläumsprämien und Ruhestandsboni mit ein.

"Um über die Runden zu kommen, versucht man nebenbei noch andere Jobs anzunehmen", sagt Deutschlehrer Tomasz Urban dem SPIEGEL. "Viele Lehrer geben Nachhilfestunden, ich arbeite zusätzlich als Sportjournalist. Sonst geht es nicht." Fußballfans in Polen ist Urban als Bundesliga-Experte bekannt, er betont aber: "Ich arbeite sehr gerne als Lehrer."

Pädagogen gegen "lügenhafte Darstellungen"

Im aktuellen Konflikt geht es jedoch nicht nur um höhere Löhne. "Die Lehrer sind nicht nur wegen ihrer geringen Gehälter, sondern auch wegen der lügenhaften Darstellung ihrer Arbeit in den regierungstreuen Medien verzweifelt. Wir kämpfen nicht nur ums Geld. Wir kämpfen auch um unsere Würde und um das gesellschaftliche Ansehen", sagt Urban. Tatsächlich werden seit Wochen in der regierungsnahen Presse Lehrer als faule und geldgierige "politische Terroristen" dargestellt, die "Kinder zu ihren Geiseln" machten.

Zusätzliches Öl ins Feuer gießen führende Politiker der regierenden PiS. "Lehrer sind nicht verpflichtet, im Zölibat zu leben. Das Kindergeldprogramm 500+ wird allen polnischen Familien ausgezahlt. Es gilt auch für Lehrer", so wies etwa Krzysztof Szczerski, Kabinettschef des polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda, die Klagen über zu geringe Gehälter zurück.

Senatsmarschall Stanislaw Karczewski wiederum appellierte an den Arbeitsethos der Lehrer. "Ich habe aus Idealismus gearbeitet, ich arbeite aus Idealismus und ich werde aus Idealismus arbeiten. Und für Kinder sollte man es noch mehr tun", sagte Karczewski, der als Präsident der zweithöchsten polnischen Parlamentskammer und Senatsabgeordneter durchschnittlich 20.000 Zloty pro Monat bekommt.

Verhandlungen ohne Ergebnis

Die Wut ist so groß, dass kurz vor Ostern nach Angaben der Gewerkschaften an über 70 Prozent der staatlichen Schulen und Kindergärten die Arbeit niedergelegt wurde. "Hier befinden sich alle Lehrer im Streik", sagt Monika Adamowicz, Schuldirektorin einer Mittelstufenschule in Slubice, einer kleinen Ortschaft in der Woiwodschaft Masowien.

"Unsere Schüler und deren Eltern verstehen es", sagt Adamowicz. Und diese Ortschaft ist kein Einzelfall. Die Zustimmung der Polen zum Lehrerstreik ist zwar rückläufig, wie aktuelle Umfragen zeigen, doch vor allem in den Großstädten ist die Solidarität mit den Lehrern noch groß. In den letzten Tagen fanden unzählige Unterstützungskundgebungen statt.

Am Donnerstag gab es neue Verhandlungen zwischen der Regierung und den Lehrergewerkschaften - ohne Ergebnis. Was für die Schüler, die in diesem Jahr ihr Abitur machen, unangenehme Folgen haben könnte: Wird der Streik fortgesetzt, können die Examensprüfungen möglicherweise nicht stattfinden.

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