Problemzeit Pubertät "15-Jährige fertigmachen kann jeder Trottel"

Und Action: "Die Jugendlichen entwickeln ein sehr unrealistisches Ich-Ideal"
Foto: CorbisSPIEGEL ONLINE: Herr Bergmann, warum tun sich viele Jugendliche so schwer mit ihrer Pubertät?
Wolfgang Bergmann: Ein Grund ist sicherlich, dass wir eine viel zu lange Kindheit haben. Bei uns stecken Menschen mit 18, 19 Jahren noch im Kindstatus. Mutti stellt ihnen ihr Spiegelei hin, räumt die Unterwäsche weg und weiß stets, wann die nächste Mathearbeit ansteht.
SPIEGEL ONLINE: Beneidenswert, könnte man sagen.
Bergmann: Nein, denn zugleich müssen die Jugendlichen ja den enormen Anforderungen der Schule genügen. Unter diesem Druck führen sie heute ein zunehmend gespaltenes Dasein: Die verwöhnende Abhängigkeit, in der sie verfangen sind, ist durchsetzt mit starken Leistungsängsten.
SPIEGEL ONLINE: Ist die Schule den Pubertierenden nicht ziemlich unwichtig?
Bergmann: Nein, denn sie kommen kaum noch dazu, neben der Schule mal ganz andere Erfahrungen zu machen. Wir zwängen unsere Kinder über viele Jahre hinweg in das Korsett eines hoch intellektualisierten Bildungsverlaufs; es schwindet der Raum für Alternativen. Wenn ich mit 12 oder 13 eine Fünf in Mathe hatte, zog ich mit meinen Freunden in den Wald oder auf den Fußballplatz, und aus unseren Bolzereien ging ich zumindest körperlich gestärkt hervor. In diesem Bewusstsein konnte ich mich dann wieder mit meiner schlechten Arbeit konfrontieren.
SPIEGEL ONLINE: Sie meinen, heutige Kinder kennen nur die Schule und sonst nichts mehr?
Bergmann: Für die meisten ist die Schule der Inbegriff der Realität. Alternativ ist nur die Welt der Medien und deren Niederschlag in den Gruppen der Gleichaltrigen. Es gab noch nie zuvor eine Generation, die so sehr von Medien geprägt worden ist.
SPIEGEL ONLINE: Was ist daran schlecht?
Bergmann: Die Jugendlichen entwickeln ein sehr unrealistisches Ich-Ideal, weil es ihnen an Erfahrungen fehlt. Es speist sich vor allem aus Tagträumen und fiktionalen Glücksvorstellungen. Überall schweben ihnen Medienbilder vor Augen, die zum Nachahmen auffordern. In meiner Beratungspraxis erlebe ich oft, wie verzweifelt sie versuchen, diesen Idealen gerecht zu werden.
SPIEGEL ONLINE: Wie tun sie das?
Bergmann: Die Jungs weichen vor allem ins Internet aus; dort können sie sich unangefochten als Fabelhelden durch virtuelle Rollenspielwelten bewegen. Auch das Internet ist ja voller Glücksversprechen, die mit dem Leben draußen wenig zu tun haben. Mädchen inszenieren eher ihre reale Erscheinung, so in etwa nach dem Vorbild von "Germany's Next Topmodel". Bei mir in der Praxis erscheinen schon Zehnjährige so gestylt, als kämen sie auf eine Bühne. Die fühlen sich verpflichtet, perfekt zu sein. Das ist aber gar nicht einzulösen. Es ist gleichwohl der Anspruch, den unsere zunehmend rivalisierende und egozentrische Kultur ihnen vermittelt.
SPIEGEL ONLINE: Ist das Spiel mit Rollen nicht auch eine Kunst, die zu erlernen nützlich ist?
Bergmann: Vielleicht, aber das reale Ich ist damit überfordert; es sitzt in dieser medialen Selbstinszenierung am Armentisch. Das wahre Leben bei Mama und Papa, auf dem Schulhof, im Mathe-Unterricht hat mit den vorgegaukelten Idealbildern immer weniger zu tun. Für viele Jugendliche ist das ein Widerspruch, der sie fast zerreisst.
SPIEGEL ONLINE: Wie gehen sie damit um?
Bergmann: Ihr Ich-Ideal löst sich von der Realität, es spaltet sich ab. Sie imaginieren sich als großartig, gehen aber jeder Probe aus dem Weg. Diese Kinder sind völlig verzweifelt, wenn sie eine Fünf in Mathe haben, aber nichts auf der Welt kann sie dazu bringen, sich auf die nächste Arbeit vorzubereiten. Sie wollen sich dem Realen nicht stellen, das Ich-Ideal wäre dann gefährdet. Und das ist neu.
SPIEGEL ONLINE: Sehen Sie Möglichkeiten gegenzusteuern?
Bergmann: Meine computerabhängigen Jungs schicke ich in den Fußballclub oder zur Jugendfeuerwehr. Und wenn sie älter sind, dann versuche ich ihnen klarzumachen, dass diese Lara Croft ja sicherlich voll geil ist, aber so ein richtiges atmendes Mädchen mit warmen Brüsten, das ist einfach die radikalere Nummer.
SPIEGEL ONLINE: Was könnte die Schule tun?
Bergmann: Sie könnte die Tatsache anerkennen, dass ihre Schüler Körperwesen sind, sie könnte ihnen Hand- und Körpererfahrungen ermöglichen - das wäre die wirksamste Gegenkraft gegen die bis in die Tiefenschichten des Ich hineindringenden Medienbilder.
SPIEGEL ONLINE: Wie soll das in der Praxis funktionieren?
Bergmann: Wenn Sie eine Magersüchtige auf ein Pferd setzen, bekommt die plötzlich ein Körpergefühl. Ich weiß von einer Schule, die Bildhauer engagiert hat; da können die Kinder sich dann mit Hand und Begabung an der materiellen Realität abarbeiten. Sie bekommen dabei nicht nur ein stärkeres Gefühl für sich selbst, sie schaffen auch etwas, sie haben etwas vorzuzeigen. Die meisten 18-Jährigen dagegen haben kaum etwas gelernt außer ein bisschen Englisch und Aufsätzeschreiben, und selbst das nur für Noten. Sie wissen nicht, was Produktstolz ist, wie gut es tut, wenn man sagen kann: Das bin ich, das habe ich hervorgebracht.
SPIEGEL ONLINE: Die meisten Lehrer würden sagen, dass der Stoffplan leider keine Zeit für solche Luxuserfahrungen lässt.
Bergmann: Ja, leider. Und viele Eltern, getrieben von Zukunftsangst, pflichten bei und drängen auf Erfüllung. Selbst die Kinder haben das großteils schon verinnerlicht. Ich war mal bei einer Radiodiskussion, wo eine 18 Jahre alte Gymnasiastin erzählte, sie müsse 60 Stunden pro Woche arbeiten. Eine Rektorin war dabei, ein Mensch vom Kultusministerium, die nickten alle - für die war das keine überraschende Information. Ich fragte: Was machst du denn, wenn du dich verliebst? Die Antwort: Dafür habe ich keine Zeit, da schaffe ich das Abitur nicht.
SPIEGEL ONLINE: Wie können Eltern ihren Kindern beistehen?
Bergmann: Eltern können die zweite wichtige Gegenkraft sein - liebevolle Eltern, denen die gemessene Leistung ihres Kindes nicht an erster, sondern bestenfalls an dritter Stelle steht. Ich sehe, dass Jugendliche heute viel mehr als früher Bedarf an Erwachsenen haben, vor denen sie Respekt haben können. Wohlgemerkt: Respekt. Es geht nicht darum, andauernd auf den Tisch zu hauen und zu fordern, dass Grenzen gesetzt werden. Ich sage immer, so ein paar 15- oder 16-Jährige fertigmachen, das kann jeder Trottel. Aber ihren Respekt zu gewinnen, das ist gar nicht so einfach. Was den Jugendlichen fehlt, sind Erwachsene, die ihnen sagen; Pass auf, mein Großer, meine Große, das kriegen wir beide hin - wenn in deinem Leben eine Tür zuschlägt, dann machen wir eine andere auf, oder wir treten sie notfalls ein. Viel dringender als frühere Generationen sind sie auf Bindung und Halt angewiesen, um eine gewisse Selbstzuversicht aufzubauen; sie brauchen Erwachsene, vor denen sie einen bindungsstiftenden Respekt haben. Das ist aber ziemlich genau das Gegenteil eines "Lobs der Disziplin".