Prügel an Waldorfschule Lehrer wegen Körperverletzung verurteilt

Ein Lehrer einer bayerischen Waldorfschule muss 3500 Euro Geldstrafe zahlen, weil er einen Schüler vom Stuhl zerrte und mit dem Kopf gegen die Tafel stieß. Wegen Ohrfeigen und Ohrenziehen müssen sieben weitere Waldorf- Lehrer sich ebenfalls vor Gericht verantworten.

Kempten - Vor dem Amtsgericht Kempten ist heute der erste von insgesamt acht Lehrern einer Waldorfschule verurteilt worden. Das Gericht sprach den 35-Jährigen der fahrlässigen und vorsätzlichen Körperverletzung schuldig. Er muss 100 Tagessätze zu je 35 Euro zahlen, also insgesamt 3500 Euro. Sein Anwalt kündigte an, in Berufung zu gehen.

Wie das Amtsgericht im Urteil feststellte, wollte der zweifache Familienvater einen Grundschüler aus der Klasse bugsieren und riss ihn so heftig am Arm, dass der Junge mit Wucht gegen die Tafel prallte. Der Lehrer habe dabei "zumindest in Kauf genommen, dass sich der Schüler weh tut", so der Richter. Der Vorfall im Schuljahr 2001/2002 sei somit als vorsätzliche Körperverletzung zu werten.

Das Gericht sah es außerdem als erwiesen an, dass der Lehrer den Schüler vom Stuhl zerrte und ihn dann so heftig zurückstieß, dass es zu einer Steißbeinprellung kam. Dem Lehrer sei schlicht der "Geduldsfaden gerissen", hieß es in der Urteilsbegründung. Ähnliche Vorwürfe, von Ohrenziehen über Ohrfeigen bis hin zu kräftigem Am-Nacken-Packen, hatten mehrere Eltern den Ermittlern über das Unterrichtsgeschehen an der Waldorfschule berichtet. Weitere sieben Lehrern werden dafür in den nächsten Monaten vor Gericht stehen.

Lehrer auch "Opfer des Schulsystems"

Der Lehrer gab während der Verhandlung die Tat in etwas abgemilderter Form zu, betonte aber, der Schüler habe den Unterricht gestört und ihn gereizt. Die Verteidigung hatte Prozess einen Freispruch gefordert, die Staatsanwaltschaft auf eine Strafe von 150 Tagessätzen à 35 Euro plädiert.

Als strafmildernd wertete das Gericht die "wirklich vorbildhafte Ehrlichkeit" des Lehrers, der zudem "ein gutes Stück auch Opfer des Schulsystems" geworden sei. Die Schulverwaltung habe ihn "sehenden Auges" in eine Klasse geschickt, mit der er überfordert gewesen sei, kritisierte das Gericht.

Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen insgesamt 14 Lehrer der Waldorfschule Kempten. Gegen sechs davon sah das Gericht von einer Anklageerhebung ab, weil die Vorfälle verjährt sind oder ein Tatnachweis nicht schlüssig zu führen wäre. Neben dem bereits verurteilten werden sich aber noch sieben weitere Lehrer der Waldorfschule verantworten müssen. Sie sollen Schüler zum Beispiel an den Ohren gezogen oder Ohrfeigen ausgeteilt haben.

Der Geschäftsführer der Kemptener Waldorfschule, Roland Birk, hatte im Vorfeld eingeräumt, dass es in den vergangenen Jahren zu "ganz wenigen Fehlreaktionen von Kollegen gegenüber Schülern" gekommen sei. Birk vermutete eine gezielte Kampagne gegen die Waldorfschule und hatte vor dem Prozess eine Sammelanzeige wegen übler Nachrede und Verleumdung erstattet.

"In Liebe erziehen, in Freiheit entlassen"

Die "Allgäuer Zeitung" berichtete bereits im August 2005 über die Vorwürfe gegen Lehrer der Waldorfschule. Darin sprach ein Vater von "Blutergüssen" an den Wangen seines Sohnes und auch von schwerer körperlicher Arbeit von Schülern auf dem Schulgelände. Nach Darstellung von Roland Birk auf der Schul-Homepage hatte die Schule den Vertrag mit den Eltern eines Schülers zum Ende des Schuljahres 2004/2005 gekündigt, weil sich die "Vereinbarungen zum Gedeihen der Zusammenarbeit als leider nicht trägfähig erwiesen" hätten. Daraufhin habe der Vater "uns unter Druck setzen" wollen und angekündigt, die Schule beim Kultusministerium und bei der Staatsanwaltschaft anzuzeigen und die Presse einzuschalten. Andere "ehemalige Eltern unserer Schule" nennt Birk auf der Webseite "Trittbrettfahrer" der "Angriffe".

An der Freien Waldorfschule Kempten, 1981 eröffnet, gibt es 13 Klassen und sieben Kindergartengruppen mit insgesamt rund 500 Kindern und Jugendlichen. Nach eigener Darstellung ist sie 1987 nicht mehr Mitglied in der Dachorganisation Bund der Freien Waldorfschulen, weil es "tiefgreifende Differenzen" über die Autonomie einer Waldorfschule gegeben habe. Der Bund der Freien Waldorfschulen teilte mit, dass er die Kemptener Schule ausdrücklich nicht anerkenne. Aufgrund des zur Zeit der Gründung der Schule fehlenden Namensschutzes dürfe sich die Schule dennoch Waldorfschule nennen.

Bundesweit lernen derzeit knapp 80.000 Schüler an 192 Waldorfschulen, die meisten in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Bayern. An diesen Schulen in freier Trägerschaft wird nach der von Rudolf Steiner entwickelten Waldorfpädagogik unterrichtet. Ein Motto der Schulen lautet: "Das Kind in Ehrfurcht aufnehmen, in Liebe erziehen und in Freiheit entlassen."

Eltern entscheiden sich oft für Waldorfschulen, weil sie erwarten, dass ihre Kinder dort einem geringeren Leistungsdruck ausgesetzt sind und dass intensiver auf die Schüler eingegangen wird als an staatlichen Schulen. Zu den Besonderheiten der Waldorfschulen zählt, dass sie von der ersten bis zur zwölften Klassen als Gesamtschulen organisiert sind, dass ein Klassenlehrer bis zur achten Klasse alle Fächer unterrichtet, es viel künstlerischen und handwerklichen Unterricht und kein Sitzenbleiben gibt. Die pädagogischen Konzepte und Wertvorstellungen sind allerdings ebenso umstritten wie die Weltanschauung des Anthroposophie-Begründers Rudolf Steiner.

cpa/ddp/dpa

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